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Gesellschaft

Es waren einmal die Deutschländer

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Es ist Urlaubszeit. Auch für die Türken in Deutschland, die ‚Alamancıs‘. Doch die Zeit der Deutschländer in der Türkei, der Heilsbringer von einst, ist vorbei. Sagt zumindest Mahmut Çebi.

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Es waren einmal die Deutschländer
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In Zeiten der türkischen Exportkrise galten die Deutschländer, die ‚Alamancıs‘, also die Türken, die einstmals als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen waren und im Sommer zurück in die Türkei kamen, als Heilsbringer. Nicht nur Verwandte, Bekannte und Nachbarn, auch die Inhaber mittelständischer Betriebe konnte die Sommermonate kaum abwarten. Denn mit den Deutschländern kam Geld ins Land, die Wirtschaft blühte auf, die Ladenbesitzer fanden ihr Lächeln zurück.
Die Heilsbringer
In Deutschland waren sie nur Gastarbeiter, doch in ihrer Heimat waren sie mitunter lebende Legenden, zu deren Ehren Lieder und Gedichte komponiert, Filme gedreht wurden. Sie waren der Rettungsanker der Türkei. Mit ihren federgeschmückten Hüten und edlen Krawatten galten sie als Trendsetter, ihre teuren Autos wurden bewundert. Viele Familien strebten danach, ihre Tochter mit einem Deutschländer oder eine Deutschländerin mit ihrem Sohn zu verheiraten. Es war ein Privileg, mit ‚Alamancıs‘ verwandt zu sein, denn damit war ein sozialer Aufstieg verbunden. Doch diese Zeiten liegen weit zurück.
Reiz der Anfangszeit verblasst
Spätestens seit sich die türkische Wirtschaft zu Zeiten Turgut Özals erholt hat und einhergehend mit dem sinkenden wirtschaftlichen Einfluss der Deutschländer fanden diese kaum noch Beachtung in der Türkei. Man registrierte sie, aber längst war der Reiz früherer Tage verblasst.
Heutzutage ist dieser Reiz gänzlich verflogen. Obwohl es immer noch Türken gibt, die von einem Leben in Deutschland träumen, reagieren mittlerweile die meisten mit einem Kopfschütteln, wenn sie einem Deutschländer begegnen. „Warum tust du dir Deutschland immer noch an?“ ist dann häufig zu hören. In wirtschaftlich starken Regionen wie in Kayseri ist der Ton gar noch härter: „Was hast du dort noch zu suchen?“ Die Menschen belächeln die Heilsbringer von einst – wenn überhaupt.
Du bist noch in Deutschland?“
Das ist auch den vielen Deutschländern nicht entgangen. Bessere Lebensbedingungen bei gleichem oder gar höherem Gehalt und das Ausbleiben von leidigen Integrationsdiskussionen machen die Türkei für sie zu einer attraktiven und ernsthaften Alternative.
Die veränderten Vorzeichen haben auch Folgen für das öffentliche Auftreten der Deutschländer in der Türkei. Während sie früher stets im Mittelpunkt standen, meiden sie heute die Öffentlichkeit. Kaum jemand nimmt noch eine Notiz von ihnen. Wirtschaftlich erwarte man ohnehin kaum noch etwas von den Deutschländern. Einzig im Autoreparaturservice, so erzählte mir ein Mittelständler, zeichne sich in den Sommermonaten ein klarer Zuwachs ab, der auf die Deutschländer zurückzuführen sei. Das sah vor zehn Jahren noch anders aus. Im Gegensatz zu früher verheimlichen sie heutzutage auch ihren Hintergrund, um lästigen Fragen über Deutschland aus dem Weg zu gehen oder aber in Geschäften nicht über den Tisch gezogen zu werden. Zumindest versuchen sie es, denn die Verheimlichung gelinge selten, zu leicht seien sie zu enttarnen.
Merkmale eines Deutschländers
„Wie erkennen Sie Deutschländer?“ wollte ich von einem Verkäufer wissen. „Sie sagen auffällig oft ‚ja‘. Sie müssen aber gar nicht etwas sagen, ihre Schuhe verraten sie bereits. Denn die Schuhe, die sie tragen, kann man hier im Regelfall nicht kaufen.“ Die Argumente klingen logisch.
Ein Nachsatz verdutzt mich dann aber doch: „Selbst wenn ich weiß, dass ich es mit Deutschländern zu tun habe, lasse ich mir aber zunächst nicht anmerken, dass ich sie enttarnt habe.“ Das Gespräch vertieft sich. Seine Argumente beweisen, dass er viel Erfahrung im Umgang mit deutschländischer Kundschaft hat. „Wenn sie wissen, dass sie enttarnt wurden, befürchten sie, dass ich höhere Preise verlange. Sie ändern ihr Verhalten grundlegend. Daher lasse ich mir nicht in die Karten schauen, um die Kunden nicht zu verscheuchen. Erst am Ende, nachdem ich mich für den Einkauf oder den Besuch bedankt habe, frage ich sie nach ihrer Herkunft. ‚Aus Deutschland‘, antworten sie offen, da sie nichts mehr zu befürchten haben“, schmunzelt der Verkäufer. „Es gefällt ihnen dann sehr, wenn ich ihnen sage, dass sie es sich haben gar nicht anmerken lassen. Sie glauben mir und sehen dies als Kompliment an.“
Die Zeit der Deutschländer ist abgelaufen
Nicht nur in der Wirtschaft, auch in den Medien ist das Interesse an den Deutschländern nahezu vollständig abgekühlt. Ein deutschländischer Pädagoge, der in die Türkei zurückgekehrt ist, stellt fest, dass die Einschaltquoten im Fernsehen sinken, wenn es um Deutschländer geht. Die kostspieligen Serien und Dokumentationen, die zum Thema „Deutschländer“ produziert wurden, möchte heute kaum noch jemand sehen.
Und auch die Beziehung zu den Verwandten ist nicht mehr mit der von früher zu vergleichen. Anfangs fuhren nahezu alle Deutschländer in die Türkei, um ihre Verwandten zu besuchen. Der Tod der Eltern, das fehlende Türkei-Interesse der in Deutschland geborenen Kinder und die Entfremdung von der Heimat, die sich mit jährlichen Besuchen nicht eindämmen lässt, wirken sich auf das Urlaubsverhalten der Deutschländer aus. Selbst wenn ein großer Teil des Urlaubs noch mit Verwandtschaftsbesuchen verbracht wird – die günstigen Möglichkeiten in der Türkei, Strand- und Hotelurlaub zu machen, werden nicht nur von ausländischen Touristen, sondern auch immer mehr von Deutschländern genutzt. Der Durchschnittsurlaub deutschländischer Familien, die erstaunlicherweise noch oft mit dem Auto in die Türkei fahren, vergeht also zu je einem Drittel unterwegs, bei Verwandten und am Strand oder im Hotel, während die Zahl derer, die wie Touristen in die Türkei fahren, gleichzeitig zunimmt.
Machen wir uns nichts vor, sie ist abgelaufen, die Zeit der Deutschländer. 50 Jahre dauerte sie an. Nun gilt es, unseren Fokus ganz auf Deutschland, und die übrigen Länder, die Gastarbeiter aufgenommen haben, zu richten. Wir haben in Europa eine neue Heimat gefunden – nicht die erste und zweite Generation, aber unsere Kinder. Sie fühlen sich hier heimisch, nicht in der Türkei.
Dem müssen wir Rechnung tragen.