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Politik

EU-Mitgliedschaft nicht mehr primäres strategisches Ziel der Türkei

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Nach jahrelangen Quertreibereien aus Europa und der Erkenntnis, dass es für die Türkei auch andere Absatzmärkte gibt, herrscht Stillstand im EU-Beitrittsprozess. Seyfettin Gürsel hält dies für bedauerlich und plädiert für eine Neubelebung.

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EU-Mitgliedschaft nicht mehr primäres strategisches Ziel der Türkei
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Von Seyfettin Gürsel*

Die Verhandlungen über die Mitgliedschaft der Türkei in der EU waren bereits schwierig, als sie vor sieben Jahren angefangen hatten. Im Hinblick auf die bisherigen Ergebnisse kann man ehrlich sagen, dass diese keineswegs beeindruckend sind. Erst 13 von insgesamt 33 „Verhandlungskapiteln“ wurden bis dato eröffnet, während zehn immer noch darauf warten, durch beide Seiten überhaupt erst einvernehmlich in Angriff genommen zu werden. Zehn weitere wurden darüber hinaus von Zypern blockiert. Verhandlungen, oder gar die Übernahme der Gesetzgebung der EU, wurden bis jetzt nur in den Bereichen Wissenschaft und Forschung abgeschlossen.

Wer ist verantwortlich für diesen kläglichen Verhandlungsstand? In jedem Fall gibt es hier mehr als nur einen Hauptverantwortlichen und auch die EU-Ratspräsidentschaft Zyperns kann dabei nicht an erster Stelle genannt werden. Diese Präsidentschaft wird in zweieinhalb Monaten zu Ende gehen und selbst dann wird sich die Situation aller Voraussicht nach nicht verbessern, und zwar aus dem einfachen Grund, dass man sich bereits vor Zyperns Übernahme der EU-Präsidentschaft hinsichtlich der Verhandlungen in einer ausweglosen Situation befunden hatte.

EU-Beitritt als strategisches Ziel der AKP

Zuallererst muss man bedenken, dass die Verhandlungen bereits auf wackligem Boden begonnen hatten. Die Verhandlungen mit dem Ziel einer Vollmitgliedschaft begannen nach jenem Treffen im Jahre 2004, im Zuge dessen die Türkei offiziell zum „Bewerberland“ erklärt wurde; jedoch wurde der Türkei zur gleichen Zeit gesagt, dass ihr eine Mitgliedschaft selbst dann nicht garantiert werden könne, wenn man sich bei allen Verhandlungskapiteln einig werden sollte.

Man kann sich nun natürlich fragen, warum die Türkei den Verhandlungen unter diesen Bedingungen überhaupt zustimmte. Mit anderen Worten: Warum sollte die Türkei die Regeln und Gesetze der EU übernehmen, gerade in Bezug auf Themen wie Wettbewerb, öffentliches Auftragswesen, Umwelt etc., obwohl Interessenkonflikte hier absolut unvermeidbar sind, so lange die Türkei kein vollständiges Mitglied der EU ist und es nicht mal verbindlich bei Erfüllung aller Bedingungen werden würde? Diese Frage wurde offiziell nie beantwortet, aber zwei Antwortmöglichkeiten liegen auf der Hand:

Die erste wäre, dass regierende AKP, die im November 2002 die Wahlen mit gerade mal 34 % der Stimmen gewonnen hatte, durch die Inangriffnahme eines besonders großen Projekts ihre Macht festigen musste. Der Start der EU-Verhandlungen galt damals als wichtiges politisches Manöver, sowohl um einen damals möglichen Militärischen Eingriff in der Zypernfrage zu verhindern, als auch um das wirtschaftliche Wachstum der Türkei anzukurbeln.

Die zweite Möglichkeit wäre, die AKP, die stets die EU-Mitgliedschaft der Türkei als strategisches Ziel betrachtet hatte, hätte darauf spekuliert, dass die dem Beitritt der Türkei kritisch gegenüberstehenden EU-Mitgliedsstaaten ihre Meinung noch ändern und eingestehen würden, dass die Türkei mit der Zeit unentbehrlich für die EU werden würde.

Es ist wahrscheinlich, dass zwischen diesen beiden möglichen Antworten die Wahrheit liegt, wirklich wichtig ist aber nur, dass die Verhandlungen begonnen haben und dazu beigetragen haben, ein demokratisches Regime zu bilden und es zumindest am Anfang zu wirtschaftlichem Erfolg zu führen.

Widerstand vieler Europäischer Staaten

Doch der Widerstand gegen die Mitgliedschaft der Türkei seitens der Europäer wurde immer offenkundiger und verletzender. Der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy sagte bei diversen Anlässen, dass die Türkei niemals ein Mitglied der EU werden könnte, da sie „nun mal kein Europäisches Land“ wäre. Um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, stoppte er fünf Verhandlungskapitel, die als entscheidend für die vollkommene Mitgliedschaft angesehen wurden.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hingegen war zwar weniger verletzend, jedoch einer vollen EU-Mitgliedschaft der Türkei gegenüber nicht weniger kritisch eingestellt. Frankreich und Deutschland, nicht willens, irreversible Schäden an der Beziehung zwischen der EU und der Türkei anzurichten, boten der Türkei den Status einer so genannten „privilegierten Partnerschaft“ an. Die Türkei lehnte dies kategorisch ab, da nicht deutlich wurde, was genau diese „Privilegien“ sein sollten. Zu guter Letzt trat noch die Regierung des griechischen Teils Zyperns auf den Plan, die dachte, dass die Verhandlungen eine gute Chance bieten würden, eine türkische Anerkennung einer alleinigen, griechisch-dominierten Regierung auf Zypern zu erzwingen und die sich daher entschied, einige weitere Verhandlungskapitel selbst zu stoppen.

Während diese Querschüsse vonseiten einiger EU-Staaten die Euphorie der Türken bezüglich einer EU-Mitgliedschaft bremsten, wurde die regierende AKP ihrerseits immer selbstbewusster. Die Wirtschaft boomte, Exporte wurden erfolgreich auch gen Osten getätigt und das Risiko eines Militärputsches war vorüber.

EU-Mitgliedschaft heute nicht mehr strategisches Ziel der Türkei?

Ist die AKP mittlerweile zur Auffassung gelangt, dass eine EU-Mitgliedschaft kein strategisch wichtiges Ziel mehr für die Türkei wäre? Man kann sich nicht sicher sein, jedoch kann man die Zeichen, die einen Richtungswechsel dieser Art andeuten, in letzter Zeit immer häufiger beobachten. Nichtsdestotrotz ist die EU nach wie vor der Hauptmarkt für türkische Exportgüter, und das trotz des Rückgangs des Ausfuhrvolumens als Folge der europäischen Konjunkturschwäche. Die Türkei wird die EU jedenfalls brauchen, wenn die Rezession vorbei ist, um das exportorientierte Wachstum aufrechterhalten zu können. Außerdem braucht die Türkei nach wie vor die Investitionen aus Europa, welche insgesamt drei Viertel aller ausländischen Investitionen darstellen. Des Weiteren stellt die EU-Mitgliedschaft weiterhin eine Art politischen Anker für die türkische Demokratie auf ihrer Suche nach Stabilität und effektiver Gewaltentrennung dar.

Vor kurzem sagte Štefan Füle, der EU-Kommissar für Erweiterung und Europäische Nachbarschaftspolitik, dass die Türkei und die EU „viele Interessen teilen und dass die Türkei ein Schlüsselland für die EU ist“ und fügte hinzu, dass „es im gemeinsamen Interesse ist, die Beitrittsverhandlungen wieder in Schwung zu bringen, insbesondere auch, dass die EU weiterhin der Maßstab für die Reformen der Türkei sein kann“. Dieser Impuls droht allerdings früher oder später komplett verloren zu gehen, solange keine klare Perspektive für eine Mitgliedschaft vorhanden ist. Die Türkei hat kein Interesse daran, die Gesetzgebung und Strategien der EU vollkommen zu übernehmen, solange eine Mitgliedschaft nicht garantiert ist. Solch eine Perspektive auf eine volle EU-Mitgliedschaft würde eine Lösung mit Zypern jedoch deutlich vereinfachen, welches nach wie vor eines der Haupthindernisse bezüglich der Mitgliedschaft darstellt.

* Prof. Dr. Seyfettin Gürsel ist Wirtschafts- und Politikwissenschaftler. Sein Studium absolvierte er im europäischen Ausland, u.a. in Paris. Nach Tätigkeiten in der freien Wirtschaft und Politik nahm er seine Lehrtätigkeit in den 90er-Jahren wieder auf. Seit 2008 ist er an der Bahçeşehir Universität und leitet dort das „Forschungszentrum zu Wirtschaft und Gesellschaft“. Er hat zahlreiche Bücher und Artikel über die türkische Wirtschaftsgeschichte und politische Wahlsysteme veröffentlicht.