Kolumnen
Ach, Europa!
Angesichts der großen Krisen an Europas Peripherie zeigt sich, dass die Europäische Union nur im Falle einer weiteren Integration in der Lage bleiben wird, politisch Bedeutung zu entfalten. Kommuniziert wird das kaum. (Foto: reuters)
Europa befindet sich in einer Entscheidungssituation, aber beim kontinentweiten Wahlkampf, der sich nun der Schlussphase nähert, merkt man nichts davon. Im Fernsehen bewerben sich zwei redegewandte Herren, der eine Deutscher, der andere Luxemburger, um den Job des Kommissionspräsidenten. Währenddessen fällt zwei Flugstunden entfernt ein großer Staat auseinander, von dem zumindest der westliche Teil Mitglied der Gemeinschaft werden möchte.
Jedes westeuropäische Land ist zur Zeit mit sich selbst beschäftigt, die Engländer werden demnächst darüber entscheiden, ob sie EU-Mitglied bleiben werden, die Schotten stimmen schon in diesem Jahr darüber ab, ob sie unabhängig werden wollen. Die Franzosen möchten ein Vorzeigeunternehmen nicht an einen US-Konkurrenten verkaufen. Und in Spanien verlieren Monat für Monat Tausende von Menschen ihr Haus und ihre Wohnung, weil sie arbeitslos sind und bei der Bank die Kreditraten nicht mehr begleichen können. In Italien leistet Berlusconi Pflichtstunden im Altersheim ab, und aus Griechenland kommt die wundersame Meldung, dass man beim Sanierungsprogramm „über den Berg sei.“
Schließlich benötigt Bundespräsident Gauck eine Reise in die Türkei, um zu der Erkenntnis zu kommen, dass der EU-Bewerber mehr als jedes andere Land dafür tut, das Leid der Syrien-Flüchtlinge zu lindern. Im Bundestag gab es unlängst eine Gedenkstunden wegen des Genozids in Ruanda, der vor 20 Jahren geschah. Dass sich etwas Vergleichbares nun im südlichen Nachbarland der Türkei abspielt, also direkt vor den Toren Europas, will der hiesigen Politik nicht in den Kopf.
Europa könnte sich schon bald „von der Weltpolitik abmelden“
Ein ehemaliger deutscher Außenminister, von den Pflichten und Zwängen des Amtes befreit, hat vor wenigen Tagen in Berlin gesagt, dass Europa nicht mehr viel Zeit habe, um sich zu finden. Viel spricht dafür, dass die Krise um die Ukraine die Dinge noch beschleunigen wird. Wenn Europa nicht handelt, wenn es sich nicht in Richtung der Vereinigten Staaten von Europa bewegt, wird es sich binnen weniger Jahre „aus der Weltpolitik abmelden“, so der Ex-Minister wörtlich. Denn Deutschland, Frankreich, Großbritannien – wenn es dann noch existiert – haben eines gemein: Jeder einzelne dieser Staaten ist zu klein, um sich allein zu behaupten. Danach formulierte der ehemalige Politiker die brutale Wahrheit: Es wird in Richtung politischer Union nur dann weitergehen, wenn Deutschland für die Schulden der Partner solidarisch einsteht und wenn Frankreich zu den politischen Kompromissen bereit ist, die einen engeren Zusammenschluss der Staaten der Gemeinschaft möglich machen. Ob davon die Rede war, als sich Angela Merkel und Francois Hollande an diesem Wochenende im Wahlkreis der Bundeskanzlerin an der noch vorfrühlingshaft rauen Ostseeküste sahen?
Zumindest in der deutschen Politik fällt auf, dass sie nicht wagt, die Zustände in der Ukraine, die vermeintliche Einflussnahme Russlands auf die Prozesse, so zu beschreiben, wie sie sind. Der Realismus bei unseren Nachbarn, den Polen, den Skandinaviern, auch den Briten, ist wesentlich größer. Niemand redet dabei einer aggressiveren Sprache oder militärischen Muskelspielen das Wort. Worauf es ankommt, ist, eine bestimmte Haltung zu zeigen, klarzumachen, dass man dieses Schaffen von Fakten in unserer Nähe niemals akzeptieren wird. Und: Dass man sagt, was ist, nicht was kommen könnte, wenn Putin endlich macht, was Berlin ihm vorschlägt oder für sinnvoll hält. Es ist sehr viel leichter, Wünschenswertes zu formulieren, als sich klar zu machen, wie es um Europa in diesen Tagen wirklich steht.
Klare Ansprache durch die Kandidaten darf nicht länger ausbleiben
„Soft power“ besitzt der Kontinent zur Genüge, aber er wird nicht darum herumkommen, auch „hard power“ zu entwickeln. Die nach Auffassung der Europäischen Union von Russland ausgelöste Krise hat dieses Erfordernis deutlich gemacht. Die Ereignisse der letzten Wochen an der Peripherie der Europäischen Union können sich für die Europäer positiv auswirken, wenn sie richtig gedeutet werden und in einem ersten Schritt die Abhängigkeit Westeuropas von russischen Energielieferungen deutlich verringert wird. In der Schlussphase des Europawahlkampfes ist „Unruhe“ daher erste Bürgerpflicht. Die Kandidaten für das Straßburger Parlament müssen dazu gebracht werden, den Kleinkram beiseite zu legen. Wie geht es mit Europa weiter? Und für den Wahlkampfauftritt von Ministerpräsident Erdoğan in Deutschland: Welche nachbarschaftliche Rolle kommt dabei der Türkei zu?