Politik
„Aus dem Nationalismus ist noch nie etwas Gutes erwachsen“
Mit einem Bekenntnis zu „europäischen Werten“ und zu einer gemeinsamen Politik für „Klimaschutz“ geht Grünen-Kandidat Sven Giegold in die EU-Wahl. Er lässt auch erkennen, wen seine Partei im Präsidentschaftsrennen unterstützen könnte. (Foto: H.Aydın)
Sven Giegold (45) ist auf Listenplatz 2 der Europaliste der männliche Spitzenkandidat von Bündnis 90/Die Grünen zur EU-Wahl. Der Politiker aus Nordrhein-Westfalen ist Mitbegründer von Attac-Deutschland und des Netzwerk Steuergerechtigkeit, in dessen Vorstand er ab 2005 einige Jahre tätig war. Im September 2008 wurde er Mitglied der Grünen und ist seit Juni 2009 Europaabgeordneter in Straßburg. Das DTJ sprach mit ihm über seine politischen Arbeit im neuen Europaparlament und über die Zukunft der EU.
Herr Giegold, Sie haben vor wenigen Minuten auf der PK erklärt, wie NRW zu einem starken Europa beitragen kann. Was verstehen Sie unter einem „starken Europa“?
Ein starkes Europa ist für mich ein Europa, das für seine Werte einsteht: Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und persönliche Freiheit, aber auch sozialen Zusammenhalt. Dort, wo Europa für diese Werte glaubwürdig einsteht, da ist es ein starkes Europa und dort, wo Europa diese Werte selbst nicht erfüllt oder gespalten ist, da ist es ein schwaches Europa.
Wie genau kann denn NRW Europa stärken?
Nordrhein-Westfalen liegt im Zentrum Europas, da ist es auch so etwas wie sein Herz. Wir haben sehr viele Grenzen mit anderen Ländern und diese Kontakte können wir pflegen. Und davon profitieren sowohl die Nachbarländer als auch Nordrhein-Westfalen. Was wir zum Beispiel jetzt an Impulsen setzen, ist die Stärke der Städtepartnerschaften, auch gerade in den Ländern, die noch nicht zur Europäischen Union gehören wie der Türkei oder der Ukraine.
Während Sie als Europaabgeordneter für ein starkes Europa kämpfen, gibt es auf der anderen Seite viele Europa-Gegner.
Ja, das dürfen Sie nicht mich fragen, aber viele Menschen sind mit einzelnen Aspekten unzufrieden. Ich habe auch viele Dinge, die ich an Europa verändern möchte, aber nur, was man liebt, kann man verändern. Nur wozu man steht, kann man verändern. Wer nicht zu Europa steht, sondern es eigentlich ablehnt, kann es nicht verändern, sondern nur meckern und nörgeln. Und genau das tut jetzt leider auch eine Partei von ganz rechts, die auch sonst eher weniger dafür bekannt ist, soziale und menschenfreundliche Positionen zu haben.
Wie stark sollte Europa denn tatsächlich sein? Wie stark sollte die EU beispielsweise die deutsche Politik beeinflussen dürfen?
Das Entscheidende ist nicht, dass Europa die deutsche Politik beeinflusst, sondern dass es Dinge gibt, die wir als Europa besser gemeinsam können. Und die Dinge, die wir gemeinsam können, die machen wir europäisch und die Dinge, die dezentral gehen, die machen wir vor Ort. Das heißt, ob das Wasser privat oder öffentlich ist, soll jeder selber entscheiden in der Kommune, dagegen eine gemeinsame starke Außenpolitik nach außen, das kann Europa besser zusammen. Oder den Klimawandel bekämpfen, können wir am besten gemeinsam; dagegen gute Bildung für alle organisieren, das kann jedes Land selbst.
Warum sollen die Wähler am 25. Mai ihr Kreuz bei den Grünen setzen?
Weil Grün für eine gemeinsame Klima- und Energiepolitik mit neuen Jobs steht. Weil wir für ein soziales Europa stehen. Wir wollen Europa verändern, aber wir stehen zu Europa und wollen Europa nicht wieder in lauter Nationalstaaten aufteilen. Aus dem Nationalismus ist noch nie etwas Gutes erwachsen.
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten, Martin Schulz, mit rot-grünen Stimmen das Präsidentschaftsrennen macht?
Erstmal gibt es nicht automatisch rot-grüne Stimmen, sondern grüne Stimmen gibt es nur für Grüne Politik. Das heißt, wir werden mit Martin Schulz reden. Sicherlich steht er uns näher als Jean-Claude Juncker, aber er wird dann auch zu Klimaschutz, zur Demokratie Stellung nehmen müssen; bei der Flüchtlingspolitik, da wollen wir grüne Änderungen sehen. Die muss er liefern und wenn er die auch liefert, kann er unsere Stimmen bekommen.
Warum zählen Sie zu den entschiedensten Gegnern des Freihandelsabkommens TTIP mit den USA?
Das Problem mit diesem Abkommen ist nicht, dass wir ein Handelsabkommen mit den USA machen. Wir haben sehr viel Handel und Investition schon jetzt mit den Vereinigten Staaten. Aber in diesem Abkommen sollen Regeln für Verbraucherschutz, für Lebensmittelsicherheit – Stichwort: Gentechnologie – oder die Chemikalienzulassung festgelegt werden und das muss man demokratisch machen und auch ändern können. Da kann man nicht einmal ein Abkommen schließen und danach ist das kaum noch umzuändern, sondern Demokratie lebt von der Veränderbarkeit, sonst mottet sich die Demokratie ein.
Zuletzt noch zum Thema Türkei: Ist eine EU-Mitgliedschaft der Türkei in absehbarer Zeit realisierbar?
So, wie die Türkei derzeit regiert wird, passt sie nicht in die EU. Eine Türkei, die sich weiter in Richtung der europäischen Werte entwickelt, gehört auch in die EU. Wir sind dafür, dass die Beitrittsverhandlungen fortgesetzt werden und zwar gerade auch zu den Fragen Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit. Aber natürlich, die jetzige Regierung hat so stark Grundrechtseingriffe eingenommen, dass sich die Türkei leider von der europäischen Union und ihren Werten wegentwickelt.