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Politik

Exklusiv aus Kairo: Ägypten aus der Sicht eines Kopten

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Ägypten versinkt in Gewalt und die Kritik am Militär nach dem Massaker vom Mittwoch ist groß. Das DTJ sprach mit dem jungen Ägypter Ephraim Gergis über die aktuelle Lage. Er nimmt das Militär in Schutz und warnt vor einem Bürgerkrieg. (Foto: reuters)

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Exklusiv aus Kairo: Ägypten aus der Sicht eines Kopten
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Ephraim Gergis lebt im Kairoer Stadtteil Heliopolis und studiert an der Deutschen Universität Kairo Pharmazie. Er ist ägyptischer Christ und berichtet von seinen Erlebnissen aus Kairo.

Am Mittwoch eskalierte die Gewalt in Ägypten. Sicherheitskräfte töteten hunderte Demonstranten, die der Muslimbruderschaft angehörten. Gleichzeitig attackierten Extremisten Polizeistationen auf der Sinai-Halbinsel. Wie hast du die Ereignisse vom Mittwoch erlebt?

Dieser Tag war wirklich schrecklich. Es war ein erbitterter Kampf zwischen der Polizei und dem Militär auf der einen Seite und den Muslimbrüdern und radikalen Elementen auf der anderen. Und die Menschen auf den Straßen sind wie der Treibstoff, der diesen Kampf vorantreibt.

Ich selbst war bis Mittwoch in einer Bibelschule in der Stadt Sues an der Grenze zum Sinai und wollte an diesem Tag zurück (nach Kairo) fahren. Auf Grund der Zusammenstöße zwischen Mursi-Anhängern und der Polizei war der Rückweg jedoch äußerst gefährlich, da die aufgebrachten Demonstranten Einrichtungen der Polizei, Kirchen, Schulen, Wohnhäuser und sogar einfache Zivilisten, einfach alles was ihnen entgegen kam, angriffen. Die Polizei, unterstützt von der dritten ägyptischen Armee, musste gleichzeitig Gebäude beschützen und versuchen, die Angriffe abzuwehren.

Auf der Straße nach Kairo gab es etliche Straßensperren und ich wurde sehr oft kontrolliert. Auf der etwa 140 Kilometer langen Strecke zwischen Sues und Kairo wurde ich sieben Mal an so einer Straßensperre der Sicherheitskräfte angehalten, also etwa alle 20 Kilometer. Die normalerweise rund zwei Stunden dauernde Fahrt zog sich dadurch fünf Stunden in die Länge.

Als ich Kairo schließlich erreichte, sah ich blankes Chaos in den Straßen und der Geruch von Blut lag überall in der Luft. Seit meiner Ankunft in Kairo habe ich meine Wohnung nicht mehr verlassen.

Wenn man in Deutschland die Bilder aus Kairo sieht, entsteht der Eindruck, dass dort Krieg herrscht. In welchem Ausmaß beeinträchtigen die aktuellen Geschehnisse das tägliche Leben der Ägypter?

Alles steht still oder wurde abgesagt, es gibt keine Arbeit und sogar die meisten Lebensmittelgeschäfte und Supermärkte sind geschlossen. Die Menschen verstecken sich in ihren Wohnungen und gehen nur im Notfall auf die Straße. Viele Männer und Jugendliche bewachen ihre Häuser und Straßen vor Angriffen der Mursi-Anhänger. Das ganze Land ist komplett lahmgelegt.

Dem ägyptischen Militär wird vorgeworfen, den gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch einen Putsch entmachtet zu haben und nun massiv Gewalt gegen die Demonstranten einzusetzen. Wie siehst du die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate?

Diese Ereignisse werden das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Aber nicht, weil das Militär gewalttätig ist, sondern weil beide Seiten nicht fähig sind, sich einander anzunähern oder zu verstehen. Und daher gibt es in absehbarer Zukunft keine Möglichkeit, dass sie eine gemeinsame Lösung dieses Problems finden. Außerdem war das Militär aus meiner Sicht die reagierende, nicht die agierende Partei.

Während seiner Amtszeit hat Mursi alle Oppositionsparteien an den Rand gedrängt und mithilfe von der Muslimbruderschaft nahestehenden Richtern eine Verfassungsänderung durchgebracht, die ihm eine fast diktatorische Machtfülle beschert hat. Er war eine Gefahr für die Demokratie in Ägypten. Seine Regierung war am Ende diktatorischer als das alte Regime.

Auch in der Türkei gab es vor kurzem massive Proteste gegen die Erdoğan-Regierung. Das türkische Militär hielt sich jedoch, anders als in der Vergangenheit, aus den Ereignissen heraus. Warum hat die ägyptische Armee eingegriffen?

Die ägyptische Armee hat interveniert, weil die Armee die einzige Macht in Ägypten ist, die es mit der Muslimbruderschaft aufnehmen kann.

Außerdem hat die Armee den Willen des Volkes, der echten Ägypter, durchgeführt und nicht die nicht vorhandene Legitimität Mursis und seiner Anhänger verteidigt.

Darüber hinaus waren die Proteste in der Türkei vergleichsweise friedlich, die aktuellen Proteste in Ägypten sind es ganz und gar nicht. Die Mursi-Anhänger haben alle möglichen Waffen.

Wer sind denn die „echten Ägypter“? Der Volkswille zeigt sich doch in demokratischen Wahlen. Und Mursi hat die Wahlen für sich entschieden.

Natürlich kann niemand bestimmen, wer echter Ägypter ist und wer nicht. Worauf ich aber hinaus will, ist, dass die Armee und die Polizei die unbeteiligten Menschen schützen, deren Wohnhäuser, die staatlichen Einrichtungen und auch die Menschen, die die Taten der Armee kritisieren. Eben alle Bürger, die das Land wirtschaftlich voranbringen wollen, ohne andere Interessen zu verfolgen.

Im Gegensatz dazu haben nicht alle Mitglieder der Muslimbruderschaft die ägyptische Staatsangehörigkeit. Und diejenigen, die sie haben, sind bewiesenermaßen nicht loyal oder patriotisch gegenüber Ägypten. Ihre Loyalität liegt bei einer internationalen Organisation, die in 72 Ländern existiert. Darunter auch der palästinensische Arm der Muslimbruderschaft, die Hamas.

Warum hat die Muslimbruderschaft Anhänger aus allen diesen Ländern nach Ägypten gebracht, um ihnen hier zu helfen? Mursi selbst hat viele Islamisten und viele radikale Kräfte, die in der Vergangenheit Verbrechen gegen die ägyptische Gesellschaft begangen haben, aus der Haft entlassen.

Der Wille des ägyptischen Volkes ist es, zuallererst einmal den sozialen Frieden wiederherzustellen und die Ziele der eigentlichen Revolution vom 25. Januar (gegen Mubarak) zu verwirklichen. Außerdem ist es das Ziel des Volkes, den Weg der Demokratie wieder einzuschlagen, der zuvor von Mursi selbst verlassen wurde. Ägypten soll gestärkt werden, nicht die Muslimbruderschaft.

Die Muslimbruderschaft hat eine ganz eigene Interpretation der Revolution vom 25. Januar, die sich von der Interpretation der übrigen Ägypter unterscheidet.

Ich selbst war damals dafür, dass Mubarak seine restliche Präsidentschaft, die bei Ausbruch der Revolution im Jahre 2011 nur noch sechs Monate dauern sollte, hätte beenden sollen. Das wäre damals weiser gewesen, hätte man sich an diese „demokratische“ Frist gehalten.

Die Muslimbruderschaft stemmte sich damals entschlossen gegen die Möglichkeit, die sechs Monate, wie vorgesehen, verstreichen zu lassen und ihre Anhänger riefen am lautesten nach einem sofortigen Abtritt des Präsidenten.

Was die Wahl Mursis im Jahre 2012 betrifft, so ist zwar noch nicht gerichtlich bewiesen, dass es einen Wahlbetrug gab. Aber die ägyptische Bevölkerung weiß, dass die Muslimbruderschaft damals hinterlistige Mittel benutzt hat, um die Wahl zu gewinnen.

Sieht man jedoch von den fragwürdigen Wahlmethoden einmal ab, so bekam Ägypten 2012 einen demokratisch gewählten Präsidenten. Man kann Mursi als einen legal gewählten Präsidenten betrachten und seine Wahl durchaus als Sieg der Demokratie in Ägypten interpretieren! Aber nach kurzer Zeit wurde klar, dass wir in Ägypten nicht mehr lange die Möglichkeit haben werden, Demokratie zu praktizieren. Denn Demokratie ist mehr als nur einen Wahlzettel auszufüllen und in eine Wahlurne einzuwerfen.

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Du bist Christ. Hast du Mursi als Bedrohung für die ägyptischen Christen empfunden?

Ja, Mursi war eine große Gefahr für die christliche Gemeinschaft in Ägypten. Und seine Anhänger sind nun sogar eine noch größere Bedrohung. Die ägyptischen Christen befürchten eine religiöse Säuberungsaktion. Seit dem 30. Juni sind über 100 christliche Kirc
hen, Schulen, Krankenhäuser, Büchereien, Bibelgesellschaften und Wohlfahrtsorganisationen angegriffen worden, hunderte Häuser von Christen wurden verbrannt.

Die Anführer der jetzigen Proteste haben in der Vergangenheit mehrmals damit gedroht, Ägypten werde schon bald ein rein islamisches Land sein, von allen säkularen, liberalen und christlichen Bewohnern „gesäubert“. Und das Militär kann nicht alle christlichen Häuser und Familien beschützen.

Unterstützen die koptischen Christen aus Angst vor der Muslimbruderschaft das Militärregime? Wenn ja, ist es dann nicht verständlich, dass man Ziel von Angriffen und Anfeindungen wird, da das Militär die Muslimbrüder brutal unterdrückt?

Ja, das ist sicherlich einer der Gründe für die Unterstützung des Militärs durch die Kopten.

Aber die Spannungen zwischen den Kopten und der Muslimbruderschaft sind nicht neu, sie bestehen vielmehr seit der Gründung der Muslimbruderschaft 1928.

Einer der Gründe, warum die Muslimbruderschaft überhaupt gegründet wurde, war die Präsenz und Arbeit christlicher Missionare in Ägypten. Die Anführer der Muslimbruderschaft rufen seit jeher zum Hass und zur Störung dieser (Missionare) auf.

Aber es stimmt natürlich, die Muslimbruderschaft hat nicht vergessen, dass die Kopten bei der Wahl von 2012 nicht für ihren Kandidaten gestimmt haben und koptische Politiker die Vertreibung Mursis aus seinem Amt befürworteten. Dafür will sich die Organisation nun rächen.

Außerdem glaube ich, dass die Muslimbruderschaft den Konflikt zwischen der ägyptischen Bevölkerung und der Armee auf der einen und der Muslimbruderschaft und den Salafisten auf der anderen Seite zu einem Konflikt zwischen Muslimen und Christen machen will. Unter dem Deckmantel des religiösen Krieges können sich die Extremisten verstecken und zu Helden werden. 

In westlichen Medien ist bereits davon die Rede, dass der „Arabische Frühling“ gescheitert ist.

Ja, der arabische Frühling ist in einer beschämenden Weise gescheitert. Die Ziele des arabischen Frühlings sind nicht durchgesetzt worden. Es ist im Gegenteil nun viel schlimmer als davor.

Einer der berühmtesten Slogans der Revolution war beispielsweise: Brot, Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Menschenwürde. Weil bei all diesen Dingen ein Mangel herrschte.

Heute gibt es ebenfalls kaum mehr Brot zu kaufen und die gesamte Grundversorgung ist gefährdet. Die Freiheit, soziale Gerechtigkeit und unsere Menschenwürde wurden schwer beschädigt. Heute wünschen sich viele Ägypter, sie hätten keine Revolution gegen Mubarak gestartet.

Gibt es Hoffnung auf Frieden?

Natürlich hoffe ich das. Aber die Realität sieht so aus, als ob es in der nahen Zukunft keine Hoffnung auf Frieden gibt.

Die Christen hier hoffen, dass Ägypten irgendwann zu einem Land wird, das alle Religionen respektiert, in dem jeder seine Religion frei ausüben kann. Außerdem hoffen die ägyptischen Christen, dass die Hasstiraden endlich aufhören und dass wir nicht mehr als Bürger zweiter Klasse behandelt werden. Christen in Ägypten hoffen darauf, dass endlich gerechte Gesetze in Bezug auf den rechtlichen Status aller Bürger durchgesetzt werden.