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Kolumnen

„Fachkräftemangel“ – gibt es den überhaupt?

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Die Rechenaufgabe – Fachkräftenachfrage minus Fachkräfteangebot ist gleich Fachkräftemangel – mutet einfach an. Sabine Schiffer meint hingegen, dass es eine Gleichung mit vielen Unbekannten ist.

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Er ist in aller Munde und allein durch die Anzahl der Wiederholungen des Begriffs glauben viele an seinen Wahrheitsgehalt. Manchmal noch mit direktem Artikel versehen, wird „der Fachkräftemangel“ zu unhinterfragten Realität. Dabei wäre es dringend geboten, seinen Realitätsgehalt und somit seine Existenz zu hinterfragen.

So sagte der Referent für Konjunkturanalyse und -prognose am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), Karl Brenke, 2012 in einem Interview mit Echo-online, dass er die Zahlen vom Verein Deutscher Ingenieure (VDI) für eine falsche Hochrechnung halte. Er stellt den angeblich 110.000 offenen Ingenieursstellen 30.000 selbst berechnete gegenüber und belegte marktanalytisch, dass die Stagnation in der Lohnentwicklung bei Ingenieuren nicht dafür spreche, dass zu wenig Angebot und eine zu hohe Nachfrage vorhanden wäre. Hingegen vermutete er, dass man durch die Öffnung des Arbeitsmarktes für gut Ausgebildete aus Schwellenländern lediglich das Lohnniveau weiter niedrig halten wolle. Dafür spreche auch, dass man das jährliche Mindestgehalt für gut ausgebildete Arbeitsmigranten auf 35.000 Euro festgelegt habe – wohlgemerkt in Berufen, die angeblich nach Arbeitskräften ringen und deshalb rein marktwirtschaftlich gedacht viel höhere Preise/Löhne erzielen müssten.

Ältere Fachkräfte, die nun arbeitslos sind oder auf Lohnsteigerungen verzichten, weil sie teuer sind und durch den Lohndruck dank der Billigkräfte Konkurrenz auf einem künstlich vergrößerten Anbietermarkt erfahren, beklagen genau diese Entwicklung. Auch im Gesundheitsbereich ist dieser Trend im Zusammenhang mit der Privatisierung von Krankenhäusern und Pflegestätten zu verzeichnen. Gerade in der Pflege ist die Nachfrage besonders hoch, die Löhne steigen aber nicht – sondern es werden aus fernen Ländern Menschen eingeladen, die bereit sind, Tag- und Nachtschichten in Vollzeit + Überstunden für 2400 Euro brutto im monatlich zu leisten. Die Bereitschaft, für diesen Lohn die schwere und qualifizierte Arbeit zu verrichten verhindert, dass die Umlage der Kosten auf alle Bürger ausgeweitet wird. Kranken- und pflegeversicherungspflichtig sind nach wie vor nur ein Bruchteil von Arbeitnehmern. Reformen müssten hier ansetzen, nicht bei der Senkung von Pflegestandards und Zuwendungszeiten.

Wer profitiert von der Debatte?

Das Gerede vom Fachkräftemangel dient den sog. Arbeitgebern und ist in vielen Fällen nichts anderes als Lohndumping. Aber nicht nur Lohnkosten will man offensichtlich einsparen, auch Ausbildungs- und Fortbildungsangebote können durch den Zukauf billiger, gut ausgebildeter Kräfte aus dem Ausland, reduziert werden – alles Kosten, die bei Nichtanfallen die Gewinne der Unternehmen steigern. Hierin könnte ein Teil der Erklärung liegen, warum die Wirtschaft in Deutschland wächst, der Export steigt, aber die Konsumnachfrage stagniert und gleichzeitig das soziale Sicherheitsgefühl abnimmt. Die Diskrepanz zwischen Arm und Reich nimmt zu, der Mittelstand schmilzt. Diese kurzsichtige Unternehmensstrategie führt zu kurzfristigem wirtschaftlichem Erfolg, bis die Nachfolger in den Aufsichtsratspöstchen die Scherben der ehemals Profitbeteiligten auflesen können. Nachhaltig ist unser Wirtschaften nicht, wie man in der leidigen Diskussion um das Aufschieben einer langfristig gar nicht zu umgehenden Energiewende ebenfalls sehen kann.

Die zunehmende Technisierung in allen Berufssparten macht es zudem unkalkulierbar, ob in Zukunft überhaupt noch in einem gewohnten Maße bestimmte Berufe gebraucht werden. Caterina Lobenstein schreibt dazu in der Zeit am 14. Oktober 2012: „Keiner weiß, wie viele Ingenieurstellen in Deutschland frei sind […]. Es gibt zwar ein Verzeichnis bei der Agentur für Arbeit, aber das taugt nichts. Denn viele Unternehmer melden ihre freien Stellen nicht, deshalb kann man nur vermuten, wie groß die Nachfrage nach Ingenieuren tatsächlich ist. Auch das Angebot an Personal lässt sich schwer berechnen: Wie viele Ingenieure sind arbeitslos? Wie viele gehen ins Ausland? Wie viele gehen demnächst in Rente? So wird aus der einfachen Rechenaufgabe – Fachkräftenachfrage minus Fachkräfteangebot ist gleich Fachkräftemangel – eine Gleichung mit vielen Unbekannten. Noch komplizierter wird sie, wenn man wissen will, wie viele Ingenieure nicht jetzt, sondern in zwanzig Jahren fehlen: Werden dann mehr Schulabgänger studieren? Wird es bessere Maschinen geben, sodass man für dieselbe Arbeit weniger Menschen braucht? Werden mehr Frauen einen Beruf ergreifen? Marktwirtschaften verändern sich mit der Zeit. Wie genau die deutsche Wirtschaft in zwanzig Jahren aussieht, kann heute niemand sagen.“

Der „Schweinezyklus“

Die hier gemachten Überlegungen ergänzen noch das, was als „Schweinezyklus“ in den Wirtschaftswissenschaften bekannt ist: Erhöhte Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt etwa führt zu entsprechenden Ausbildungsentscheidungen. Wenn nach absolvierter Ausbildung oder Studium, die Arbeitskräfte dann zur Verfügung stehen, kann sich die Nachfrage längst geändert haben. Generationen von Lehrkräften können ein Lied davon singen, dass in bestimmten Phasen der Sättigung auch die bestbenoteten Abschlüsse keine Anstellungsgarantie bedeuteten. Arbeitsämter rieten zu der Zeit fehlender Arbeitsplätze genau die nicht mehr nachgefragten Fächer zu studieren, damit man antizyklisch mit der Ausbildung fertig werde. Erstaunlich, dass in der aktuellen Debatte um einen angeblichen Fachkräftemangel Marktzyklen als Thema so gut wie nicht vorkommen.

Das Bundesinstitut für Berufsbildung (www.bibb.de) sieht keinen Mangel aufscheinen, jedenfalls nicht bis 2030. Die Forschenden des Instituts sehen gar ein Überangebot an Fachkräften mit Hochschulabschluss auf uns zukommen, die nicht die versprochenen Meriten für ihre Ausbildungsanstrengungen erhalten werden. Wer also einen „Fachkräftemangel“ unhinterfragt beschwört, kann einem Missverständnis aufgesessen sein oder aber gezielt Menschengruppen gegeneinander ausspielen wollen – zum eigenen Nutzen und Profit.