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Gesellschaft

Familien-Suizide erschüttern die Türkei

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Der türkische Staatspräsident spricht von Wohlstand. Doch in den vergangenen Tagen nehmen sich Familien dramatisch selbst das Leben. Wie passt das zusammen und vor allem, warum gibt es so viele Massen-Suizide?

In den vergangenen Wochen haben Meldungen über Suizide die Türkei erschüttert. Im ersten bekannt gewordenen Fall nahmen sich vier Geschwister aus Istanbul das Leben. Nur wenige Tage später berichteten türkische Medien über eine vierköpfige Familie, die in ihrer Wohnung in Antalya tot aufgefunden wurde. In beiden Fällen sollen laut Medienberichten Cyanid-Salze zur Anwendung gekommen sein. Cyanid-Salze sind sehr giftig. Auch am 15. November wurde über einen ähnlichen Fall berichtet. Diesmal nahm sich eine dreiköpfige Familie in Istanbul mit demselben Giftstoff das Leben.

Doch Cyanid ist nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen den Fällen. Alle drei Familien befanden sich den Berichten zufolge finanziell in einer ausweglosen Situation. Den vier Geschwistern etwa soll es sehr schlecht ergangen sein, weil nur eine der vier arbeiten konnte und Geld nach Hause brachte. Dieses Einkommen soll aufgrund zu hoher Schulden vom Zwangsvollstrecker verpfändet worden sein. Insgesamt sollen laut Medienberichten 21 Vollstreckungsakten gegen die berufstätige Frau vorgelegen haben. Allein die offenen Zahlungen an einen Kiosk lagen demnach bei etwa 2.260 Türkische Lira (umgerechnet etwa 350 €).

Der Fall in Antalya ist mindestens genau so tragisch. Der Familienvater soll seit neun Monaten auf Arbeitssuche gewesen sein. In diesem Zeitraum habe die Familie ihre Miete nicht zahlen können. In einem Abschiedsbrief schrieb der Vater: „Ich entschuldige mich bei allen, aber ich habe keine Wahl. Wir beenden unser Leben.“ Die Polizei fuhr nach einem Hinweis der Nachbarschaft zur Wohnung der Familie und fand die leblosen Körper der Geschwister und Eltern vor.

Neuer Fall in Istanbul − wieder aus finanzieller Not

Zuletzt wurde ein zweiter Fall in Istanbul bekannt, bei dem eine dreiköpfige Familie tot in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Auch hier sei derselbe Giftstoff nachgewiesen worden. In einem ersten Statement nannte die Istanbuler Oberstaatsanwaltschaft die finanziellen Probleme des Vaters als Grund für den Suizid. Er sei Juwelier gewesen und habe Schulden angehäuft, die er dann habe nicht mehr begleichen können.

Armut und finanzielle Probleme als Grund für Massen-Suizide: Dabei hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erst kürzlich davon gesprochen, dass der Wohlstand in der Türkei angestiegen sei. Nach einem aktuellen Bericht des Präsidialamts ist die Zahl der von Armut betroffenen Menschen im Land von 24,1% (2008) auf aktuell 21,2% zurückgegangen. Dennoch verschulden sich Türken immer mehr. Gab es 2002, also im Jahr, in dem die AKP an die Macht kam, 8 Millionen Vollstreckungsakten, sind es derzeit 21 Millionen. Vor drei Jahren lag diese Zahl nach Angaben des türkischen Portals TR24 bei etwa 14,8 Millionen.

Soziologen schlagen Alarm

Türkische Soziologen schlagen deshalb Alarm. Die Soziologin Hatice Özcan schreibt beispielsweise in einem aktuellen Beitrag für das Online-Nachrichtenportal „Gazete Duvar“ über die Gefahren der aktuellen wirtschaftlichen und politischen Lage der Türkei für Individuen. Dabei spricht Özcan von etwa eine Million gefährdeten Bürgern.

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Die Berichterstattung über Selbsttötung(en) gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände. DTJ-Online berichtet nur in Ausnahmefällen über Suizide, z.B. dann, wenn eine gesellschaftliche Relevanz gegeben ist.

Die Telefonseelsorge hat verschiedene anonyme und vertrauliche Beratungsangebote im Internet. Ein persönliches Gespräch bietet die Telefonseelsorge anonym und rund um die Uhr unter den gebührenfreien Telefonnummern 0800-111 0 111 und 0800-111 0 222 an. Neben Gesprächen am Telefon wird auch der Austausch per Mail oder Chat angeboten. Weitere Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie vor Ort bei einem Geistlichen, Arzt oder in lokalen Beratungsstellen. Diese finden Sie im örtlichen Telefonbuch über den Allgemeinen Sozialdienst der Stadt oder die Wohlfahrtsverbände Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonie und Paritätischer Wohlfahrtsverband.