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Politik

„Freiheit und Zukunft der Türken hängen von den Kurden ab“

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HDP-Flaggen und Passant
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Was ist die neue Türkei und welche grundlegenden Veränderungen wird das von Erdoğan und seiner AKP angestrebte Präsidialsystem mit sich bringen? Und zwar nicht nur für seine Gegner, sondern auch für Menschen, die ihn seit Jahren unterstützen? Wie gelingt es Erdoğan anderthalb Jahrzehnte an der Macht zu bleiben und sie zu festigen, obwohl er die Verfassung missachtet, seit Jahren mit ernsten Korruptionsvorwürfen zu kämpfen hat und fast alle seine wichtigen Weggefährten von Abdullah Gül bis Bülent Arınç auf dem Weg an die absolute Macht fallen ließ? Und wie schafft er es, dass die parlamentarische und außerparlamentarische Opposition nicht gemeinsam gegen ihn vorgeht, dass er sie der Reihe nach außer Gefecht setzt?

Viele Beobachter analysieren diese Fragen aus der Perspektive der Tagespolitik und verlieren dabei oft den Blick auf das Gesamtbild. Nicht so der renommierte Journalist und Systemkritiker Ahmet Altan. Er sieht die Türkei auf dem Weg in eine „islamistische (im Original dinci) Diktatur“. Wie dieser Weg aussieht, beschreibt er in seinen Kolumnen anhand der tiefen Koalitionen hinter der formellen politischen Kulisse und spricht von einer „Spinnen-Politik“, die Erdoğan systematisch gegen alle politischen Parteien und staatlichen Institutionen betreibe. Unabhängig davon, ob sie auf seiner Seite stehen oder nicht: „Es gibt Spinnenarten, die ihren Opfern ihr Gift einspritzen, das sie von innen zersetzt und sie verflüssigt. Danach müssen sie ihre toten Opfer nur noch aussaugen.“

Hass auf die Kurden als politisches Gift

Genauso spritze Erdoğan sein „Gift“ in Parteien und Institutionen und setze sie außer Gefecht: „Dieses Gift, das Erdoğan einsetzt, ist der Hass auf Kurden“, so Altan. AKP, MHP und Ultranationalisten (Ulusalcılar) habe Erdoğan mit Einsatz dieses “Giftes” bereits zersetzt und sie unter Kontrolle genommen. Nun wende er diese Strategie gegen die CHP an. Mit ihrer Zustimmung zu der vorübergehenden Verfassungsänderung, die die Aufhebung der Immunität eines Viertels der Abgeordneten des türkischen Parlaments vorsieht, und der damit verbundenen Weigerung, mit der HDP zusammenzuarbeiten, mache sich die CHP immer mehr zu einer bedeutungslosen politischen Kraft. Diese füge sich ähnlich der AKP und der MHP zunehmend und mehr unbewusst als bewusst der von Erdoğan zugewiesenen Rolle.

„Das Gegengift für Euch ist es, endlich mit den Kurden zusammenzuarbeiten, auf die Ihr jahrelang verächtlich herabgeschaut habt.“ Ahmet Altan

Seit Erdoğan mit seiner AKP bei den Parlamentswahlen vom 07. Juni vergangenen Jahres die absolute Mehrheit verloren hat, setzt er zunehmend auf eine sicherheitspolitische Strategie, bei der er im Südosten der Türkei entgegen der früheren Fahrtrichtung auf eine militärische Lösung des Konflikts mit der PKK setzt und im Parlament die pro-kurdische HDP dämonisiert. Erdoğan weiß den Hass der überwiegenden Mehrheit der türkischen Bevölkerung auf die PKK, der mit jedem getöteten Soldaten noch wächst, als diskursive Waffe in der öffentlichen Debatte für sich zu nutzen.

Terror-Vorwürfe als Totschlagargument

Er überzieht die politische Opposition mit dem pauschalen Vorwurf der Terror-Unterstützung und des Verrats. Damit kann er auch im kemalistisch-nationalistischen Lager punkten. So geschehen beispielsweise bei der Abstimmung zur Immunitätsaufhebung im türkischen Parlament: Für die CHP war die Angst davor, als Terrorunterstützer gescholten zu werden, falls sie gegen die Immunitätsaufhebung und damit indirekt für den Erhalt der HDP-Fraktion stimmt, groß genug, um sich zu nicht unerheblichen Teilen dem Entwurf der AKP anzuschließen. Die kurzfristige Angst vor der Beschuldigung, mit dem vermeintlichen „verlängerten Arm der PKK“ zusammenzuarbeiten, war groß genug, um den Weg in das Präsidialsystem sehenden Auges mit zu pflastern.

Genau darin sieht Altan das Problem und appelliert an die wichtige gesellschaftliche Gruppe der „nicht nationalistischen Kemalisten“. Fall sie ernsthaft am Erhalt des Laizismus und an einer Zukunft in Freiheit interessiert seien, müssten sie ihren Hass gegen die Kurden und die HDP überwinden und den Weg der Zusammenarbeit suchen: „Alle türkischen Akteure sind von diesem Gift zersetzt. Das Gegengift für Euch ist es, endlich mit den Kurden zusammenzuarbeiten, auf die Ihr jahrelang verächtlich herabgeschaut habt. Eure Entscheidung betrifft nicht nur eure eigene Zukunft, sondern die Zukunft des gesamten Landes. Und ihr habt nicht mehr viel Zeit.“