Connect with us

Politik

Für eine Revision der Türkei-Politik

Spread the love

Angesichts der herausragenden geopolitischen Lage der Türkei sollten Deutschland und Europa ihre Haltung dringend überdenken. Ulrich Weisser, Vizeadmiral a.D, plädiert für eine Revision der Türkei-Politik. (Foto: dpa)*

Published

on

Für eine Revision der Türkei-Politik
Spread the love

Seit fast fünfzehn Jahren diskutieren die Mitglieder der EU untereinander und zugleich die EU-Staaten mit der Türkei über deren EU-Mitgliedschaft. Seit Beginn der Beitrittsverhandlungen im Jahre 2005 sind nur spärliche Fortschritte zu verzeichnen – dies auch, weil das Projekt „türkische EU-Mitgliedschaft“ von keinem der EU-Staaten wirklich mit Nachdruck voran gebracht wird. Im Gegenteil: Im Mai 2007 machte der französische Staatspräsident Sarkozy im Wahlkampf sehr deutlich, dass er die Türkei nicht in der EU sehen möchte und Bundeskanzlerin Merkel sagte im November 2012 bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in Gegenwart des türkischen Staatspräsidenten in Berlin in entwaffnender Offenheit „Wir wollen die Vollmitgliedschaft der Türkei nicht. Aber wir wollen die Türkei als wichtiges Land nicht verlieren“.

Die Bundeskanzlerin hat der deutschen und internationalen Öffentlichkeit nicht gesagt, wie sie diesen Spagat bewerkstelligen will, der stillschweigend voraussetzt, dass die Türkei sich mit einer solchen Lösung zufrieden geben wird. Tatsächlich gibt es in der Türkei aber viele Politiker, die sich nicht damit abfinden wollen, dass es in Westeuropa Nationen und Regierungen gibt, die sich der Türkei zivilisatorisch-kulturell überlegen fühlen und in dieser Grundhaltung nach immer neuen Ablehnungsargumenten gegen einen türkischen EU-Beitritt suchen. Die Front der Gegner wiederholt seit Jahren gebetsmühlenartig, dass die EU sich wirtschaftlich mit einem solchen Beitritt übernehmen würde und dass Menschenrechte, Pressefreiheit und rechtsstaatliche Prinzipien in der Türkei noch unzureichend ausgebildet sind ;die Türkei wird einem anderen Kulturkreis mit anderer religiös bestimmter Identität zugeordnet und nicht als Gewinn in ihrer Brückenfunktion zum modernen Islam gesehen. Selbst Optimisten sehen heute keinen Beitritt der Türkei zur EU vor dem Jahr 2020.

Es ist natürlich offenkundig, dass die Türkei einigen Grundprinzipien eines modernen, von Menschenrechten geprägten Verfassungsstaates heute noch unzureichend folgt. Beispielhaft sei nur erwähnt, wie sehr die kleine christliche Minderheit drangsaliert wird oder dass Journalisten, die über das Thema Terror berichten, behandelt werden als ob sie selbst Terroristen seien.

Wir müssen uns allerdings die Frage stellen, ob wir allein noch so gut begründete und für unser System unersetzliche Prinzipien zum alleinigen Maßstab in der Beitrittsfrage machen sollen. Unsere Interessenlage gebietet doch, auch den geopolitischen Lage-Wert der Türkei für unsere Sicherheit, für unsere wirtschaftliche Kooperation und für die Möglichkeiten unserer Einflussnahme in einem labilen strategischen Umfeld zu berücksichtigen.

Die EU hätte es dabei selbst in der Hand, die verfahrenen Verhandlungen mit der Türkei konstruktiv in Bewegung zu bringen. Nach der gültigen Rechts- und Vertragslage in der EU zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sind alle neu hinzu tretenden Mitglieder der EU verpflichtet, den Euro einzuführen, sobald die Konvergenzkriterien erfüllt sind. Dänemark und Großbritannien sind durch Sonderregelungen von der Übernahme des Euro befreit. Acht andere Mitglieder warten ab. Wenn sich die EU entschließen würde, den Beitritt zur EU vom Beitritt zum Euro zu entkoppeln, könnte es bei der dynamischen und eingespielten Arbeitsweise der 17 EU-Mitglieder in der „Euro-Group“ bleiben und die EU könnte zugleich Flexibilität für die Aufnahme von neuen Mitgliedern – wie der Türkei – in den äußeren Kreis geben; mit anderen Worten: Das Europa der zwei Geschwindigkeiten würde nicht auf Finanzfragen beschränkt, sondern neue und praktische Formen der europäischen Zusammenarbeit ermöglichen.

Auffällig ist, dass in der europäischen Debatte eine tiefgreifende Analyse über die strategische Rolle der Türkei im Nahen und erweiterten Mittleren Osten kaum einen Platz findet – vor allem nicht in der deutschen Politik, und auch nicht in unseren Medien. Dabei liegt es nahe, die sich rasch verändernden Beziehungen der Türkei zu ihrem Umfeld und damit zu Russland, zum Iran, zu Syrien und Israel, zu den Ländern des „arabischen Frühlings“, aber natürlich auch zu den USA und zur EU systematisch zu durchleuchten und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen für den Lage-Wert der Türkei zu ziehen – Schlussfolgerungen, die ganz anders zu gewichten sind als die kulturhistorisch geprägten Einwände gegen einen türkischen EU-Beitritt.

II.
Während der Jahrzehnte des Kalten Krieges und der Konfrontation mit der Sowjetunion war die Türkei der vom ganzen Bündnis und vor allem von den USA geschätzte stabile Südpfeiler der Atlantischen Allianz, der ganz wesentlich zur Sicherheit Europas beitrug. Zugleich konnte die Türkei sicher sein, dass die NATO bei jedem Angriff auf die Türkei zur territorialen Verteidigung bereit stehen würde. Die Türken stehen in Fragen der Verteidigung ihres Landes auch heute fest an der Seite des Westens als Teil der NATO. Zugleich begreift es die Allianz es als selbstverständliche Pflicht zur Solidarität, die türkische Luftverteidigung gegen eine wachsende Bedrohung durch die rasche Entsendung von deutschen, niederländischen und amerikanischen Luftabwehrraketen vom Typ PATRIOT zu stärken.

Das auf Gegenseitigkeiten beruhende Sicherheitsarrangement zwischen der Türkei und der NATO hat nach dem Ende des Kalten Krieges nicht nur einen Knacks bekommen, sondern sich sogar grundlegend gewandelt, was die USA am meisten zu spüren bekommen haben als die Türkei den amerikanischen Interventionskräften für den Golf-Krieg im Jahr 2003 den Ein- und Durchmarsch verweigerte, weil die Türkei befürchtete, dass sich das Kurdenproblem damit voll entfalten würde. Washington und Ankara haben darüber hinaus unterschiedliche Ansichten zur Endphase der NATO-Präsenz in Afghanistan und zu der Frage, was Sanktionen gegenüber dem Iran tatsächlich bewirken können.

Die Türkei pflegt trotz aller Versuche, den Iran durch Sanktionen gefügig zu machen und international zu isolieren, ein gut nachbarliches Verhältnis zu Teheran – dies vor allem, weil die Türkei auf Gas und Öl aus dem Iran angewiesen ist. Die Beziehungen zwischen Ankara und Teheran haben sich in den letzten Jahren signifikant verbessert, was sich schon in der Steigerung des Handelsvolumens auf heute fast 15 Milliarden US-Dollar zeigt. Aber diese Zusammenarbeit hat bisher ihre Grenzen in strategischer Rivalität gefunden. Die beiden Regionalmächte haben zwar eine lange gemeinsame Grenze und auch gegenseitige Abhängigkeiten – vor allem auf dem Energiesektor. Aber die jeweilige Vision von der politischen und strategischen Rolle im Nahen und erweiterten Mittleren Osten sind doch sehr unterschiedlich – dies aus religiösen, politischen und ökonomischen Gründen. Die Türkei verspricht sich, daraus eine beherrschende Rolle in der Region ableiten zu können; sie sieht sich zugleich als den natürlichen, geographisch am besten und kulturell am nächsten gelegenen Vermittler im Streit um das iranische Atomprogramm.

Die Türken befürchten, dass zusätzliche EU-Sanktionen die radikalen Kräfte im Iran stärken. Sie sind der dezidierten Auffassung, dass die Rechte des Iran zur friedlichen Nutzung der Kernenergie mehr respektiert werden sollten und dass die gesamte iranische Nuklearproblematik besser zu lösen sei, wenn das Thema im Zusammenhang mit einer nuklearwaffenfreien Zone im Nahen Osten auf einer Konferenz unter Einschluss Israels verhandelt werden würde. Die Türkei meint, dass damit auch ein Weg zu finden sei, den Iran von seinen Befürchtungen abzubringen, das neue Raketenabwehrsystem der USA/NATO sei allein gegen ihn gerichtet.

Die fast freundschaftliche Partnerschaft zwischen der Türkei und Russland steht auf dem Boden von Wirtschaftsbeziehungen, die sich rasch zum Vorteil beider Seiten entwickeln. Russland ist inzwischen einer der wichtigsten Handelspartner der Türkei; der Warenaustausch soll von heute etwa 18 Milliarden US-Dollar bis 2015 sogar verfünffacht werden. Die Handelsbeziehungen sind breit angelegt und umfassen vom Bau neuer Nuklearkraftwerke über die Lieferungen von Öl und Gas auch den Tourismus. Diese harmonische Zusammenarbeit wird allerdings durch einige historisch bedingte Gegensätze in der Kaukasusregion relativiert, wo Russland gegenüber Armenien eine andere Politik verfolgt als die Türkei. Russland ist der Hautverbündete Armeniens während die Türkei Aserbeidschan unterstützt.

Bei der Konzeption des Geflechtes von Öl- und Gas-Leitungen in dieser Region und auf dem Weg nach Westen haben sich Russland und die Türkei als Wettbewerber und Kooperationspartner gezeigt. Russland möchte den Gas-Fluss nicht nur im Norden mit der Ostseepipeline „North Stream“, sondern auch im Süden mit der Leitung „South-Stream“ kontrollieren. Von diesem Ansatz abweichende Leitungsinitiativen wie die türkisch-aserbeidjanische Zusammenarbeit und auch insonderheit das vom Westen, vor allem von der EU geförderte Nabucco Project, werden in Moskau mit Unwillen, aber in Ankara als Möglichkeit gesehen, eine zentrale Rolle in der Gasversorgung nicht nur der Region, sondern auch Westeuropas zu spielen. Dabei wird deutlich, dass die EU sich von der angeblich strategischen Ratio leiten lässt, Westeuropa dürfe nicht zu abhängig von russischer Gasversorgung werden. Diese Betrachtungsweise verkennt, dass Russland mindestens ebenso abhängig vom europäischen Markt ist wie Europa von entsprechenden russischen Lieferungen. Der ehemalige französische Staatspräsident Sarkozy hat diese Ängste der EU auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2010 in das Reich der Phantasie verbannt und dazu gesagt, er könne sich nicht vorstellen, dass ein Kaufman zur Sicherung seines Marktes seine Kunden totschlägt.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Syrien haben sich im Verlauf des Bürgerkrieges in Syrien dramatisch verschlechtert. Noch 2009 waren die Beziehungen zwischen Damaskus und Ankara von intensiver wirtschaftlicher Kooperation geprägt, die ausbaufähig erschienen. Darauf setzte die Türkei. Heute unterstützt die Türkei die oppositionellen Kräfte in Syrien und erkennt die politische Vertretung durch den Syrischen Revolutionsrat als einzig legitime politische Stimme Syriens an – während der Iran alles tut, um die Opposition in Syrien scheitern zu lassen.

Diese Konstellation hindert die Türkei allerdings nicht daran, gegenüber Israel heute einen eher feindlichen Kurs einzuschlagen – dies vor allem bedingt durch die aus türkischer Sicht völlig verfehlte strategische Beurteilung des Iran durch Israel, wo das iranische Nuklearprogramm als existenzielle Bedrohung angesehen wird. Unterschiedliche Bedrohungsperzeptionen spielen im Gesamtbild der Region eine oft entscheidende Rolle. Sogar der israelische Staatspräsident hat sich an den Spekulationen über einen baldigen Angriff auf die iranischen Atomforschungszentren beteiligt, obwohl es dafür keine völkerrechtliche Grundlage in Form einer Resolution des VN-Sicherheitsrates geben wird.

Wir Deutsche wissen besser als alle anderen: Nach allem, was den Juden angetan worden ist, hat Sicherheit höchste Priorität für Israel. Aber die gegenwärtige Regierung betreibt eine Politik, die Israel eher gefährdet als dem Land Sicherheit zu geben. Israel gehört neben dem Iran schon jetzt zu den großen Verlierern der arabischen Revolution im Nahen Osten. Diese Revolution wird begleitet von einer epochalen Verschiebung von Macht und Einfluss in der Region. Das neue Machtgefüge wird immer mehr bestimmt von Saudi Arabien, Ägypten und der Türkei, wobei die Türkei, Saudi Arabien und Katar in Arabien die extremen Pole dieses „sunnitischen Dreiecks“ bilden, das sich gegen den „schiitischen Iran“ etabliert.

Eine politische Lösung des iranischen Nuklearproblems braucht einen anderen Ansatz. Hier ist der Westen auf die Türkei angewiesen. Der Westen muss das Recht Irans auf Urananreicherung anerkennen und zugleich Sicherheitsgarantien für den Iran anbieten. Zu keiner Zeit ist dem Iran eine Nukleargarantie angeboten worden, die jede weitere eigene Waffenforschung für den Iran erübrigt hätte. Bisher sind die Verhandlungen mit dem Iran eindimensional und viel zu verengt auf die Frage konzentriert, ob der Iran sich wohl Nuklearwaffen zulegen will und ob es dafür Beweise gibt. Die USA haben seit dreißig Jahren jede Chance für einen ernsthaften Dialog vertan. Künftige Verhandlungen mit dem Iran müssen einem viel weiteren Ansatz folgen: Das Konzept heißt Dialog, Einhegung und Abschreckung. Abschreckend wirkt aber nur, was auch einsetzbar ist. Die israelischen militärischen Optionen entsprechen nicht diesem Kriterium und verdecken die gefährliche Sinnlosigkeit solcher Einsätze.

Ein Gesicht wahrender Ausweg aus dieser Sackgasse mag für Teheran der Vorschlag der Türkei sein, an einer Friedenskonferenz für den Nahen Osten teilzunehmen. Einbezogen werden müsste dabei die Sicherheitsproblematik in der gesamten Golfregion wie auch eine Zusammenarbeit mit dem Iran bei der Stabilisierung Afghanistans. Ohne den Iran wird es keine regionale Stabilität geben, die auch Irak und Afghanistan einschließt. In diesem Prozess müsste die Türkei die Führung übernehmen.

Die Türkei weist seit langem darauf hin: Der Iran ist ein Schlüsselland der Region und muss so behandelt werden. Eine Lösung der Krise muss allen Seiten etwas geben: keine persischen Nuklearoptionen mehr, aber auch Sicherheit für den Iran in einem bedrohlichen Umfeld. Mit anderen Worten – Sicherheit vor dem Iran verlangt auch Sicherheit für den Iran.

III.
Es ist offenkundig, dass sich die Außen- und Sicherheitspolitik der Türkei gegenüber der eindimensionalen NATO-Gefolgschaft grundlegend geändert hat und dass dieser Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Allerdings ist daraus nicht abzuleiten, dass die Türkei dem Westen entgleitet. Mit Blick auf ihren politischen Pragmatismus, den wirtschaftlichen Erfolg und die heutige strategische Bewegungsfreiheit erwartet die Türkei allerdings zu Recht, dass sie entsprechend behandelt wird – auf gleicher Augenhöhe und als wirklicher Partner.

Angesichts der konzeptionellen Armut im westlichen Verhandlungsansatz und der Phantasielosigkeit der Verhandlungsführung ohne strategische Durchdringung des Nuklear-Problems liegt mehr als nahe, eine grundlegende Revision unserer Türkeipolitik ins Auge zu fassen. Wir sollten auf die Türkei, die sich auch auf Russland stützen kann, als womöglich erfolgreichen Mittler in der Dauerkontroverse über Persiens nukleare Ambitionen setzen. Als Ausgangspunkt einer solchen Politik müssten insonderheit Brüssel und Berlin ihr Verhältnis zu Ankara neu definieren. Dazu gehört vor allem eine Antwort auf die alles entscheidende Frage, ob und wenn ja wann die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden kann und soll.

Wir haben es nicht mit einem Bittsteller zu tun, der alles tun wird, nur um Mitglied der EU zu werden. Wir haben es mit einer gewichtigen Regionalmacht in einer der Schlüsselregionen der Welt zu tun, die nicht nur ihr strategisches Umfeld bestellt hat, sondern zugleich eine ökonomische Dynamik walten lässt, die dieses Land womöglich an die Spitze der Weltwirtschaft führt.

Die Position der meisten europäischen Staaten in dieser Frage – auch Deutschlands – ist schwach und wenig überzeugend, weil das Element Redlichkeit fehlt. Die wichtigsten europäischen Regierungen folgen keiner glaubwürdigen Ratio, sondern sind aus innenpolitischen Gründen bemüht, kulturell-religiösen und antitürkischen Ressentiments in ihren Ländern nachzugeben.

Dieser Artikel ist am am 31.01.2013 auf cicero.de erschienen.

Autoreninfo: Ulrich Weisser war von 1992 bis 1998 Leiter des Planungsstabs des Bundesministers der Verteidigung. Der Vizeadmiral a.D. arbeitet heute als freier Publizist und Unternehmensberater.