Gesellschaft
Gecekondu und Ort deutscher Geschichte: Das Baumhaus an der Berliner Mauer
Es braucht nur etwas Eigeninitiative und Dreistigkeit: In den 80er Jahren haben Osman und Mehmet Kalın ein Stück DDR-Gebiet im Westen Berlins unter Beschlag genommen und dort ihre Gartenlaube errichtet. Mittlerweile ist das „Baumhaus an der Mauer“ in Berlin Kult. Doch die beiden wurden auch Zeugen dramatischer Ereignisse deutsch-deutscher Geschichte. Wir haben sie getroffen.
Mehmet Abi, stell dich kurz vor und sag mir wo wir grad sind?
Ich heiße Mehmet und bin der Sohn von Osman Kalın. Wir befinden uns gerade beim Baumhaus an der Mauer.
Wieso heißt es Baumhaus an der Mauer?
Weil aus dem Haus ein Baum herausragt und es damals direkt neben der Berliner Mauer gebaut wurde. Es wird auch amüsant Guerilla Garten oder Gecekondu* von Kreuzberg genannt (lacht).
Du und dein Vater haben dieses Haus gebaut?
Ja, Anfang der 80er. Mein Vater migrierte in den 60ern, damals erst als Gastarbeiter nach Österreich, lebte und arbeite anschließend in Mannheim und Stuttgart. 1980 zogen wir nach Berlin-Spandau und dann nach Kreuzberg. Hier am Bethaniendamm, gleich da vorne, bezogen wir eine Wohnung mit Mauerblick. Das war lange vor deiner Geburt.
Dieses Haus hat eine Geschichte. Eine ungewöhnliche und faszinierende Geschichte. Ich würde gerne mehr darüber erfahren.
Also damals, 1982, war mein Vater schon Rentner. Und so ein Rentnerleben war nichts für ihn. Es machte ihn träge und es war langweilig, einfach rumzusitzen und seine Zeit unproduktiv zu verschwenden. Bei einem Spaziergang bemerkte er damals dieses Grundstück und hatte eine Art göttliche Offenbarung, sagte er mir damals. Er fing mit leichter Gartenarbeit an und im Laufe der Zeit besorgte er sich Sachen aus allen unterschiedlichen Ecken und baute sich quasi sein eigenes Gartenhaus.
Hatte er dafür eine Baugenehmigung?
Ne, mein Junge, während des Eisernen Vorhangs war dieses Grundstück Niemandsland. Das Grundstück gehörte zu Ost-Berlin, aber befand sich auf der westlichen Seite der Berliner Mauer.
Niemandsland?
Beide Sektoren hatten dieses Grundstück nicht genutzt. Das lag daran, dass man die Berliner Mauer etwas ungenauer errichtet hat. Die Kommunisten wollten Geld sparen und bauten die Mauer halt etwas kürzer.
Hat denn niemand etwas gesagt? Weder irgendwelche Mitarbeiter aus der DDR, noch irgendwelche Behörden aus dem Westen? Haben beide Seiten das einfach toleriert?
Natürlich waren die DDR-Grenzsoldaten am Mauerstreifen erst einmal sehr überrascht und fragten sich, was mein Vater da so tut. Sie waren misstrauisch und wollten das erst einmal nicht erlauben. Einige Uniformierte klopften dann an unsere Tür und statteten uns einen Besuch ab. Es kam zwischen ihnen und meinem Vater zu einigen Wortgefechten. Bis heute bezeichnet mein Vater diese Typen als eşekoğlu („Eselsohn“, gängige türkische Beleidigung, Anm. d. Red.), weil sie sich verhalten haben als wären sie die Könige der Welt. Die wollten nicht nachgeben. Mein Alter aber noch weniger. Das ging sogar damals bis zum Zentralkomitee der SED. Man hatte die Befürchtung er wäre ein Agent des Westens und würde hier einen Fluchttunnel vorbereiten. Aber bis auf wenige Leute innerhalb der Behörden hat kaum jemand Notiz genommen und es interessierte auch niemanden so richtig.
Was hat das Zentralkomitee der SED beschlossen? Es ist jetzt nicht besonders klein, wenn ich mir das von hier oben mal angucke.
Nunja, wir bekamen eine Genehmigung, zwar beschränkt, aber konnten unser Grundstück behalten. Es ist in der Tat kein kleines Grundstück. Es sind ganze 350 Quadratmeter. So konnten wir und mein alter Herr ganz unbekümmert ein kleines Gartenhaus bauen. Wir bepflanzten den Garten mit Obst und Gemüse. Wir haben sogar ein paar Bäume gepflanzt. Uns wurde das Graben für einen Brunnen nicht erlaubt und die Berliner Wassergesellschaft hatte auch so ihre Probleme mit uns. Aber Gott schickte uns einen Engel. Der evangelische Pfarrer aus der St. Thomas-Gemeinde hat uns geholfen. Mit seiner Hilfe konnten wir unser Gemüse und Obst bewässern.
Du hast deinem Vater damals beim Bau geholfen und hast miterlebt, wie jemand erschossen wurde. So jedenfalls hat es mir dein Vater erzählt.
Als Teenager haben ich und mein Vater, als wir hier zusammen saßen und Datteln gegessen haben, gesehen, wie zwei junge Männer versuchten über die Mauer zu springen und in den Westen zu fliehen. Der Erste, der über die Mauer sprang, hatte großes Glück und wurde von den an ihm vorbezischenden Kugeln nicht getroffen, die von einem Grenzsoldaten auf dem Wachtturm abgefeuert wurden. Der zweite hatte kein Glück. Er konnte zwar über die Mauer springen, wurde aber von Kugeln durchsiebt. Ich stand unter Schockstarre. Mein Vater war außer sich vor Wut. Er schrie und verfluchte den Grenzsoldaten, so sehr, dass der Soldat vom Wachturm aus das Gewehr auf ihn richtete und drohte, wenn er nicht still sein würde.
Und…
Mein Vater sagte ihm, dass er keine Angst vor dem Tod hat und ruhig abdrücken könnte. Die Wut hatte ihn so sehr getrübt, dass er in dem Moment alles um sich herum vergessen hatte. Seine Augen wurden ganz rot vor Zorn. Er knirschte mit den Zähnen und hatte seine Hände zusammengeballt. Der Grenzsoldat auf dem Wachturm lachte dann unverhohlen und ging unbekümmert seinen Dingen nach. So als wäre rein gar nichts passiert.
Ich glaube, es war wohl unter anderem das Gefühl der Machtlosigkeit, das deinen Vater so in Rage brachte. Du siehst, wie unschuldige Menschen erschossen werden und kannst nichts dagegen tun.
Ja, das hat er mir auch einige Jahre später an einem Abend gesagt, als wir darüber geredet haben. Später sagte er mir auch, dass er ins Zimmer ging und da weinte, weil er seine Trauer nicht mehr zurückhalten konnte und mir nicht zeigen wollte. Er nahm mich liebevoll an die Hand, brachte mich nach hause und sagte kein einziges Wort. Mein Vater ist ein sehr besonnener und gewitzter Mensch, aber er versuchte auch immer gegenüber seinen Kindern die nötige Autorität zu bewahren. Ein Vater ist gleichzeitig ein Retter in Not und kann sich in schwierigen Situation keine Schwächen erlauben. Aber das eigentlich Schockierende, mein Lieber, war, dass wir den Soldaten, der das getan hat, kannten. Und das schon seit einigen Jahren.
Zum Beispiel hat er zu Weihnachten Spirituosen und Gebäck durch die Mauer gereicht. Man grüßte sich jeden Morgen, und im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Art Freundschaft, so jedenfalls glaubten wir. Bis zu diesem Tag, als wir gesehen haben, wie skrupellos und kalt er einen jungen Mann erschossen hat. Wir sagten uns, er ist Soldat. Er tut nur das was man ihm befiehlt, wir sagten uns, er arbeitet vielleicht für diese Faschisten, aber in Wirklichkeit ist er gegen diese Leute. Wir irrten uns. Das sahen mein Vater und ich an dem Tag, als er diesen Jungen erschoss. An dem Tag offenbarte er sein wahres Gesicht.
Daran erinnert sich dein Vater noch.
Naja, du hast ihn ja grad besucht und wie du weißt, hat er heute Alzheimer und erinnert sich an vieles nicht mehr. Aber diese Sache hat er bis heute nicht vergessen. Das hat sich bei ihm fest eingebrannt, glaube ich. Auch mit seinen 94 Jahren erinnert er sich noch daran.
Ich fand das Gespräch mit deinem Vater trotzdem sehr spannend. Ich mag die Gespräche mit älteren Menschen, weil sie Zeitzeugen sind und Jahrzehnte der Geschichte zu erzählen haben. Aber trotz seiner Erkrankung ist deiner Vater meiner Meinung nach geistig immer noch ziemlich fit.
Ja, das stimmt. Er hat nie geraucht oder Alkohol getrunken und ist heute noch sehr leidenschaftlich.
Also gut, was geschah nach dem Kalten Krieg, als der Eiserne Vorhang endgültig fiel und die Berliner Mauer ihr verdientes Ende fand.
(Lacht) Das war damals nicht nur eine Wende in der deutschen Geschichte, es war für uns auch sehr lustig. Auf einmal war keine Mauer mehr da. Es war nicht mehr die kleine Hütte neben der Mauer, sondern ein zweistöckiges Haus mitten im Herzen Berlins. Nach dem Mauerfall bauten mein Vater und ich ein weiteres Stockwerk mit Betonfundament dazu und erweiterten das Grundstück um 80 Quadratmeter. Wir gaben ihm sogar die imaginäre Postanschrift „Bethaniendamm Nr. 0, Berlin 10997“. Dann irgendwann kamen die Beamten vom Bezirk Mitte und sagten, dass wir uns vom Acker machen sollen, dass dieses Grundstück ihnen gehört und wir hier nichts zu suchen haben. Die standen schon mit ihren Bauarbeitern an. Die waren ziemlich unfreundlich und mein Vater verjagte sie. Er sagte, keine zehn Pferde kriegen ihn von hier Weg und sie müssten schon mit der Bundeswehr und Panzern einmarschieren, um ihn hier rauszukriegen. 1991 gab es hier auch einen Brandanschlag. Man vermutet so einiges. Ich will niemanden beschuldigen, aber man hat nichts unversucht gelassen, um uns hier rauszukriegen. Über diesen Konflikt mit den zuständigen Ämtern wurde sogar bundesweit in den Medien berichtet.
Aber scheinbar lief am Ende doch alles gut. Das Haus steht immer noch. Und ihr seit immer noch hier.
Ja, zum Glück ist mein Vater so ein sturer Kerl. Aber soll ich dir sagen, was das schönste war: Die Menschen, die sich mit uns solidarisiert haben. Alle hier in der Umgebung haben sich mit uns solidarisiert. Die Kirche, die Nachbarn, Freunde, völlig unbekannte Menschen, Medien, ja sogar einige Ämter und Politiker. Am Ende hatten sich mein Vater und ich nach all den Jahren des Konfliktes durchgesetzt und dieses Grundstück bekommen.
Mehmet abi, ich finde es ja großartig, dass ihr euch durchgesetzt und das bekommen habt, was euch zusteht. Aber mich interessiert eine dringende Frage: Wieso verkauft ihr dieses Grundstück nicht?
Weißt du, mein Junge, man hat uns schon so einige Angebote gemacht, es kamen Geschäftsmänner hierher, die uns über fünf Millionen angeboten haben, um ein Hotel zu errichten. Wir haben manchmal überlegt, zu verkaufen. Aber am Ende haben wir uns dagegen entschieden. Weißt du, das hier, wo wir uns grad befinden, hier hat Geschichte stattgefunden. Dieses kleine Grundstück ist ein Platz deutscher Geschichte. Hier sind viele Menschen vorbeigelaufen und haben ein bisschen Zeit und Liebe hinterlassen. Damals wie heute. Jeden Tag kommen Touristen und neue Menschen hierher. Du zum Beispiel. Es freut mich, dass ein junger Mann wie du hierhin gekommen ist, um sich die Geschichte vom Baumhaus an der Mauer anzuhören. Hier hat die Wende in der deutschen Geschichte stattgefunden. Wir, unsere Familie, wir haben hier viele schöne Tage erlebt. Dieser Platz erinnert mich an diese schöne Zeit. Mein Vater und ich bringen es nicht übers Herz, es zu verkaufen. Es gibt leider nicht mehr so viele Plätze in Berlin, die uns an die Zeit im Kalten Krieg erinnern. Das finde ich sehr schade. Insbesondere für die jüngere Generation. Mein Vater und ich werden diesen Ort nicht verkaufen. Wir wollen, dass es unter Denkmalschutz gestellt wird. Als Erinnerung für die neue und jüngere Generation. Damit sie Wissen, dass Freiheit keine Selbstverständlichkeit ist!
Mehmet abi, das ist wahre Größe! Vielen Dank!
* Als Gecekondu (wörtlich: „nachts hingestellt“) bezeichnet man in der Türkei selbstgebaute Häuser und informelle Siedlungen (aber keine Slums), die meist an den Rändern von Großstädten ohne offizielle Baugenehmigungen errichtet werden.
Fotos: Emre Çakır