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Politik

Gerichtshöfe erklären sich für unzuständig: Karaca-Verfahren gerät zur Posse

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Im Verfahren gegen Samanyolu-Leiter Hidayet Karaca und 75 weitere Beschuldigte geht der Kompetenzstreit der Gerichtshöfe in die nächste Runde.

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Hidayet Karaca bleibt weiter in Haft.
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Die folgenschweren Kompetenzkonflikte im Zusammenhang mit dem gerichtlichen Untersuchungsverfahren gegen 76 seit Dezember 2014 inhaftierte Personen, darunter den Leiter der Sendergruppe Samanyolu, Hidayet Karaca, die seitens der Staatsanwaltschaft unter anderem der Freiheitsberaubung, falschen Beschuldigung und Urkundenfälschung beschuldigt werden, belasten weiterhin die türkische Justiz.

Die Beschuldigten sollen eine arbeitsteilige Verschwörung zum Zwecke der unbegründeten Kriminalisierung der Tahşiye-Gruppe, einer Sufi-Gemeinde, als Terrorgruppe verabredet und das Vorhaben anschließend umgesetzt haben. Kritiker sprechen von einer konstruierten Anschuldigung und verweisen darauf, dass es eine tatsächliche Radikalisierung der Tahşiye-Gemeinde und Kontakte zu al-Qaida gegeben habe. Das Vorgehen der Regierung gegen den Sender und die Polizeibeamten stehe im Zusammenhang mit der Offensive Ankaras gegen den vermeintlichen „Parallelstaat“, der sich nach Meinung der Regierenden im Inneren des Behördenapparates gebildet hätte und versuchen würde, die Regierung zu sabotieren bzw. zu stürzen.

Die Richter des 32. und 29. erstinstanzlichen Gerichtshofes in Istanbul erneuerten am Montag ihre Entscheidungen, wonach die Entscheidungsbefugnis des 29. Friedensgerichtshofes, der bislang die Untersuchung führte, über die Beschwerde der Beschuldigten wegen Befangenheit der Richter am 29. Friedensgerichtshof auf den 32. Gerichtshof für Strafsachen übergehe bzw. in weiterer Folge Karaca und 63 weitere Beschuldigte freizulassen seien, weil die Haftgründe der Flucht- und Verdunkelungsgefahr weggefallen seien.

HYSK hat eine Untersuchung eröffnet

Der 10. Friedensgerichtshof für Strafsachen hob die Urteile auf und sprach dem 32. erstinstanzlichen Gerichtshof die Entscheidungskompetenz ab. Der Oberste Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) hat die Untersuchungen zu den Vorfällen aufgenommen und soll mehrere Richter, die in die Entscheidungen des 32. und 29. erstinstanzlichen Gerichtshofes involviert waren, des Amtes enthoben haben.

Der 32. Strafgerichtshof erster Instanz leitete seine neuerliche Entscheidung wiederum zur Veranlassung der Freilassung an die Staatsanwaltschaft weiter, der 29. Friedensgerichtshof für Strafsachen, erklärte die Entscheidung des 10. Friedensgerichtshofes für Strafsachen, mit welcher der Freilassungsbeschluss vom Wochenende für „null und nichtig“ erklärt worden war, selbst für „null und nichtig“. Beide Gerichte beschuldigen einander nun der Unzuständigkeit und könnten bereits jetzt eine Grundlage für eine spätere Anfechtung möglicher Verurteilung vor dem Höchstgericht der Türkei oder in weiterer Folge vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schaffen – nämlich den Nichtigkeitsgrund der Verletzung des Rechts auf einen gesetzlichen Richter.

Der Staatsanwalt hatte sich am Wochenende geweigert, der Entlassungsanordnung des 32. Strafgerichtshofes erster Instanz Folge zu leisten, da die Zuständigkeit für das Verfahren beim zuvor befassten Friedensgerichtshof liege und diesem nicht gegen dessen Willen entzogen werden könne. Der 10. Friedensgerichtshof bestätigte diese Rechtsauffassung und hob den Beschluss auf, weil der 32. Strafgerichtshof erster Instanz keine Jurisdiktionsgewalt in dieser Sache gehabt hätte.

Ordentliche Gerichtshöfe zeigen Akzeptanzprobleme hinsichtlich der „Friedensgerichte“

Die Richter des erstinstanzlichen Gerichtshofes beharren hingegen auf dem Standpunkt, dass die Verfassung den erstinstanzlichen ordentlichen Gerichten eine höhere Autorität zukommen lasse als den im Vorjahr als „Projektgerichtshöfen“ geschaffenen Friedensgerichtshöfen. Auf dieser Basis habe man auch dem 10. Friedensgerichtshof für Strafsachen die Jurisdiktionsgewalt entzogen – zumal dieser sich nicht zu den Befangenheitsanträgen der Beschuldigten gegen die dortigen Richter geäußert hätte.

Außerdem sei das Recht der Beschuldigten nach Art. 90 der türkischen Verfassung und Art. 109 des türkischen Strafgesetzbuches verletzt worden, nicht für einen unangemessen langen Zeitraum ohne Anklage in Untersuchungshaft gehalten zu werden.

Der 32. Gerichtshof erster Instanz warnte in einer gesonderten Verlautbarung, die Staatsanwälte würden sich der Freiheitsberaubung schuldig machen, sollten sie den Beschlüssen der Gerichtshöfe nicht entsprechen.

Die Sprecherin des EU-Kommissars für Nachbarschaftspolitik, Johannes Hahn, Maja Kocijancic, erinnerte auf Anfrage der Zeitung Today’s Zaman die Türkei als Beitrittskandidat an ihr Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Justiz. Der Vorsitzende der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE), Sir Graham Watson, bezeichnete die Weigerung der Staatsanwaltschaft, Karaca trotz einer gerichtlichen Anordnung nicht freizulassen, als „Travestie der Justiz“.