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Gescheitert – Der Werdegang eines Migranten in Deutschland

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Stellt euch vor, ihr seid Akademiker, Bauingenieur, und habt sämtliche Berufserfahrungen gesammelt. Am Ende verurteilt man euch zum Gabelstaplerfahrer. Die Geschichte eines Migranten von unserem Blogger Alparslan Cansu

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Als ich zu Wochenbeginn wieder meine Arbeit aufgenommen hatte, sah ich eine neue Person in unserer Arbeitsgruppe. Wie schon seit Jahren hatte die Firma, in der ich arbeite, nur noch Leiharbeiter eingestellt. Also müsste auch er von der Leihfirma zu uns geschickt worden sein. Denn die Firmen in Deutschland stellen ihre Leute schon seit Jahren fast nur in dieser Weise ein. Mit seinen schwarzen Haaren und dem hellbraunen Teint verriet sein Aussehen, dass er Türke oder Araber war. Ich fasste Mut, um meine Bekanntschaft mit ihm zu machen. Ich war der einzige türkischstämmige Deutsche in unserer Gruppe, die überwiegend aus Menschen aus Russland oder Polen bestand.
Die Schicht begann an diesem Tag um 6:00 Uhr morgens. Der Gruppenleiter hatte die Einteilung gemacht und der Neue sollte von einem erfahrenen Mitarbeiter unterwiesen werden. Das hieß für mich, dass ich die Bekanntschaft um einige Stunden bis zur Frühstückspause verschieben musste.

Um 9:00 Uhr saßen wir dann zum Frühstück zusammen. Ich holte mir meinen Kaffee aus dem Automaten und gesellte mich zu ihm. Im Pausenraum hatten wir uns dann endlich kennengelernt. Er hieß Ali und war Türke. Der Mittvierziger hatte an den Seiten bereits graue Haare, aber sein Gesicht wirkte noch sehr jugendlich. Natürlich reichte die Viertelstunde Pause nicht aus, um ihn näher kennenzulernen, aber in den folgenden Tagen hatte ich schon deutlich mehr über ihn erfahren.

Wir waren inzwischen gute Freunde, die sich auch nach Feierabend trafen und gemeinsam etwas unternahmen. Er repräsentierte in meinen Augen jene Gesellschaftsschicht, die aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse auf dem deutschen Arbeitsmarkt nur gescheitert war. Obwohl er hier geboren und aufgewachsen war, fand er manchmal nicht die richtigen Worte, um seine Gedanken und Gefühle auszudrücken. Seine Aussprache verriet dazu noch etwas „Exotisches“ an ihm. Kein Wunder; er wuchs im türkischen Kulturkreis auf.

Er soll nach der Grundschule die Realschule besucht und sie mit einem guten Durchschnitt abgeschlossen haben. Anschließend soll er das Fachabitur abgelegt haben, um dann ein Studium zum Bauingenieur aufzunehmen. Während seines Studiums, das er langweilig fand, habe er sich in Kultur- und Bildungszentren engagiert und seine Stärken in der Pädagogik entdeckt.

Als Bauingenieur „ungelernt“ und „Harzt IV“-Bezieher

Nach dem Abschluss seines Studiums als Bauingenieur begann dann die Qual für ihn, wie er mir berichtet hatte. Acht lange Jahre Bewerbungen geschrieben und nur Absagen erhalten. Das müsse aber ziemlich frustrierend gewesen sein, sagte ich. Auf meine Frage hin, ob er sich denn nicht weitergebildet habe, sagte er mir, dass er viele Kurse der Agentur für Arbeit besucht habe, die dem Staat zwar tausende Euros gekostet hätten, aber ihm im Endeffekt nichts genützt haben.

Nun ja, nach drei, vier Jahren, die man nicht im Beruf arbeitet, gilt man in den Augen der Arbeitgeber so gut wie „ungelernt“. Also hat Ali die sieben Jahre wohl umsonst studiert. Inzwischen wuchs das soziale Umfeld von Ali. Er arbeitete bei einer Zeitschrift und wurde dort Redaktionsleiter auf 400 Euro-Basis. Nebenbei verfasste er als freier Mitarbeiter Artikel für zwei Tageszeitungen. Seine Familie, damals bestehend aus seiner Frau und den drei Kindern, konnte er mit diesem Hungerlohn kaum ernähren. Er bezog deshalb jahrelang Hartz IV.

Ali gab nicht auf. Doch auch sein großes Umfeld, bestehend aus Politikern, Gemeindemitgliedern, Kulturschaffenden, Literaten und ähnlichen Personen, konnten ihm bei seiner Suche nach einer Anstellung nicht weiterhelfen. Nebenbei erteilte er Nachhilfeunterricht und ging damit der Leidenschaft nach, die er zu seiner Studienzeit entdeckt hatte. Zehn Jahre Berufserfahrung habe er in dieser Zeit im Bildungswesen gesammelt, aber unterrichten durfte er nur in solchen Instituten und nicht an einer allgemeinbildenden Schule. Dazu bedarf es eines Studiums zum Lehramt. Das fehlte Ali. Genauso wie das Volontariat, das nur zwei Jahre dauern sollte, um als gelernter Journalist seine Kolumnen in Tageszeitungen zu schreiben oder Artikel zu verfassen.
Als er mittlerweile 35 Jahre alt war, war er damals immer noch auf staatliche Unterstützung angewiesen, wie er mir erzählte. Er besaß immer noch kein festes Standbein und war immer noch auf „Jobsuche“.

Leidenschaft zum Beruf, aber trotzdem zum Scheitern verurteilt

Sodann kam ihm der Gedanke: „Wenn ich meinen erlernten Beruf, der mich nur gelangweilt hatte, nicht leidenschaftlich ausführen kann, so mache ich meine Leidenschaft zu meinem Beruf.“ So entschloss er sich, einen Quereinstieg in den Lehrerdienst zu versuchen. Er recherchierte die Aufnahmevoraussetzungen und sah, dass in der föderalistisch aufgebauten Bundesrepublik die Hoheit der Bildung bei den Ländern lag und die Konditionen auch entsprechend unterschiedlich waren.

Als ein Mensch mit Migrationshintergrund lockte ihn das Bundesland NRW, weil dort besonders Quereinsteiger aus MINT-Fächern, gerne auch mit Migrationshintergrund, gesucht wurden, um die Schüler mit entsprechender Herkunft besser zu integrieren. Das waren Voraussetzungen, die er alle mitbrachte, dachte er sich. Das Bundesland war in Bezirksregierungen aufgeteilt und er schrieb sie an. Diese erzählten ihm, dass er die Stellenausschreibungen der jeweiligen Schulen im Internet einsehen und sie anschreiben könnte.

Doch schon zeigte sich der nächste Haken. Das Studium, das er absolviert hatte, reichte allein nicht für eine Einstellung aus. Er könnte nur bedingt unterrichten und wurde auf ein Jahr befristet. Unerfahren im Schulunterricht, merkte er dazu schon, dass es anders vor sich ging als im Nachhilfekurs. Eine Klasse mit 25, ja sogar 30 Schülern zu unterrichten, war für ihn eine besondere Herausforderung. Er tat sich schwer, aber ihm blieb nicht viel übrig. Als Bauingenieur konnte er nicht mehr arbeiten. Da hatte er bereits die Schuhe an die Nagel gehangen. Ob er noch Journalist sein könnte? Auch diesen Gedanken hatte er begraben und wollte nur eins: Lehrer werden.
Doch nach einem Jahr hieß es von der Bezirsregierung, dass er nicht mehr weiter unterrichten dürfe, weil er nicht „alle“ Voraussetzungen erfülle. Er müsse entweder ein zweijähriges Feststellungsverfahren durchlaufen oder eine einjährige pädagogische Einführung absolvieren, wobei er beim zweiten keine Lehrbefähigung erhalte.
Der Wille allein reichte also nicht aus. Die Gesetzgebung sprach da eine ganz andere Sprache. Auf der einen Seite hieß es, dass das Land dringend nach Lehrern suche. Besonders jene, die MINT-Fächer studiert haben und dazu noch Migrationshintergrund haben. Auf der anderen Seite wurden Hürden über Hürden aufgestellt, damit man kein Lehrer werden konnte.

Er verstand die Welt nicht mehr. Er hockte vor seinen Computer und setzte ein Schreiben auf, adressiert an das Kultusministerium des Landes. Doch nach wochenlangem Warten verwies das Ministerium Ali an die Bezirksregierungen, obwohl doch das Land selber die Gesetze verabschiedete, die ihn daran hinderten, Lehrer zu werden.

Sämtliche Briefe an Institutionen blieben Erfloglos

So schrieb er an die Petitionsausschüsse des Bundes- und des Landtages von NRW. Er bekam eine fünfseitige Antwort aus Düsseldorf, überfüllt mit Gesetztestexten, die endgültig besagten, dass er „kein Schulfach studiert“ hätte und somit der Einsatz an allgemeinbildenden Schulen für ihn nicht in Frage käme. Ausschließlich Berufsschulen könne er versuchen. Doch auch diese verlangten ähnliche Voraussetzungen, die aus dem Schreiben des Petitionsausschusses aber nicht hervorgingen.
Gebeugten Hauptes und mit größter Enttäuschung versuchte er noch etwas zu erreichen. Scheitern war das Letzte, woran er denken könnte. Die Hoffnung starb nie, also müsste er einen Ausweg finden.

Die Schule, in der er ein Jahr unterrichten durfte und in der er gute Freundschaften geknüpft hatte, bot ihm einen Posten in der Schulverwaltung an. Er nahm das Angebot an. Nicht weil er in der Verwaltung arbeiten wollte, sondern weil er keine andere Möglichkeit mehr hatte. Irgendwie wollte er doch noch Lehrer werden. Denn er wusste nicht, wie lange er diesen Posten behalten würde, doch als Lehrer könnte er seine Zukunft absichern und die Weichen stellen.

In diesem einen Jahr führte er sogar selber Telefongespräche mit den Bezirksregierungen, um seinen eigenen Fall zu lösen. Eine davon gab ihm die Erlaubnis, noch ein Jahr zu unterrichten, nur weil der Schule die Lehrkräfte fehlten. Also eine Art Überbrückungszeit, was bedeutete, dass er nach einem Jahr definitiv nicht mehr unterrichten durfte. Auch die Logik dieser Erlaubnis verstand er nicht. Er durfte an Berufsschulen höhere Mathematik unterrichten, aber nicht im Jahrgang 5 einer Hauptschule. Was zählte, war nur das Dokument, das ihm verwehrt blieb. Auf das reichliche Wissen, das er vermitteln konnte, schaute jedoch niemand.

Gescheitert an der gesellschaftlichen Teilhabe

Nach einem weiteren Jahr „geduldeten Einsatzes im Lehrerdienst“ musste er seinen Hut nehmen. Er schrieb wieder Bewerbungen, von denen er wusste, dass sie niemals mit einer Zusage gekrönt werden würden. Als Ingenieur konnte er nicht arbeiten, weil er inzwischen als „ungelernt“ eingestuft wurde. Lehrer durfte er nicht werden, obwohl er zwei Jahre erfolgreich unterrichtet hatte. Und das, obwohl sein Schulleiter zweimal seinen Unterricht besuchte und einen sehr positiven Bericht an die Bezirksregierung schrieb, um eine Weiterbeschäftigungsgenehmigung erteilt zu bekommen. Als Journalist konnte er nicht arbeiten, weil er noch kein Volontariat gemacht hatte. Auch hier erhielt er zahlreiche Absagen. Immer hatten andere Kandidaten irgendwie bessere Karten. Ali hatte doch bereits jahrelange Redaktionserfahrung in einer Zeitschrift und in zwei Tageszeitungen. Er hatte hunderte von Beiträgen und Kolumnen geschrieben. Doch das alles zählte nicht.
Was nur zählte, war das Dokument, das ihm nie ausgehändigt wurde. Er bekam nicht einmal die Chance für eine Weiterbildung in diesen Berufsfeldern. Er war gescheitert. Gescheitert an der Bürokratie, gescheitert an der Gesetzgebung, gescheitert an den Arbeitgebern, gescheitert an der gesellschaftlichen Teilhabe. Er war das Scheitern in Person.

Als ich mir seine Geschichte angehört hatte, bemerkte ich, dass ich instinktiv meine rechte Hand zu einer Faust geballt hatte. Als ob ich jemandem auf die Fresse hauen wollte. Es war die Wut, die in mir kochte. Dieser Mensch hatte seine kostbarste Zeit damit vergeudet, Bewerbungen zu schreiben, die nur mit Absagen endeten. Er hatte eine Familie, die er zu ernähren hatte. Er wollte nicht auf staatliche Hilfe angewiesen sein. Doch er musste. Weil er keine andere Chance mehr hatte.

Sein Glück, so Ali, versuchte er dann in vielen anderen Bereichen, in denen er nicht ausgebildet war. Als Leiharbeiter versteht sich. Sodann fand er sein großes Glück(!). Er wurde von der Leihfirma, die ihn zu uns geschickt hatte, aufgenommen. Nur für sechs Monate aufgenommen versteht sich, noch lange nicht übernommen. Er hatte keine Zukunft. Was passierte wohl nach diesen sechs Monaten? Er würde wahrscheinlich wieder vor der Tür stehen.

Zum Gabelstaplerfahrer verurteilt

Er fing dann an, als Gabelstaplerfahrer in unserer Abteilung zu arbeiten. Er tanzte im wahrsten Sinne des Wortes mit dieser Maschine. Er bediente sie sehr gut. Doch das war kein Trost. Er könnte andere Sachen im Leben viel besser machen, statt nur einen Gabelstapler sehr gut zu bedienen. Ein gelernter Bauingenieur, der gescheitert war. Der dann den Weg in den Lehrerdienst einschlug und erneut scheiterte. Er scheiterte zudem noch im Journalismus, weil er einfach kein Volontariat aufnehmen konnte, um den Beruf eines Journalisten zu erlernen. Er wird ein stolzer (!) Staplerfahrer.

Um doch noch aus dieser Zwickmühle herauszukommen, versuchte er zuletzt eine Umschulung zum Fachlageristen zu machen. Wenigstens das müsste doch klappen, dachte er sich. Er sprach mit dem Referenten der Leihfirma über diese Umschulung. Die Antwort war alles andere als überraschend: Es hieß, er wäre in den letzten vier Jahren „keiner minderwertigen Tätigkeit nachgegangen“. Er wäre für den Beruf des Fachlageristen „überqualifiziert“. Also musste dieser überqualifizierte Mensch weiterhin einfacher Staplerfahrer bleiben. Auch an dieser Hürde war er endgültig GESCHEITERT.