Connect with us

Gesellschaft

Ich weiß, was ich letzten Sommer getan habe

Spread the love

Wie konnte es nur passieren, dass ein Volk, das so stolz auf seinen Zusammenhalt ist, dermaßen brutal aufeinander losgeht? Ich dachte, dass diese Zeiten vorbei wären. Im vergangenen Sommer wurde ich eines Besseren belehrt. (Foto: zaman)

Published

on

Spread the love

GASTBEITRAG Als ich Ende Mai 2013 Videos sah, auf denen zu sehen war, wie Bäume im Gezi-Park gestürzt wurden und daraufhin die Bürger bestürzt reagierten, fühlte auch ich mich zutiefst betroffen. Nachdem Bürger und jugendliche Aktivisten erfahren hatten, dass weitere Bäume entfernt werden sollten, entschieden sie sich, abwechselnd auf dem Platz Wache zu stehen.

Auch ich hatte mich dazu entschieden, am nächsten Tag meinen Anspruch auf den Park zu erheben. Ich bin 1977 geboren. Ich konnte meinen Ohren kaum glauben, wenn ich von den chaotischen Zuständen vor und nach dem Militärputsch 1980 hörte, wie sich die Bürger dieses Landes bekriegten. Ich konnte den Konflikt, der zwischen Konservativen und Linken getobt haben soll, nicht verstehen und bedauerte stets den Tod hunderter junger Menschen. Wie konnte es nur passieren, dass ein Volk, das stolz auf seinen Zusammenhalt ist, dermaßen brutal aufeinander losgeht? Ich dachte, dass diese Zeiten vorbei wären.

Ich bin blond, habe blaue Augen und spreche hochtürkisch, so wie es in Istanbul üblich ist, stamme aus der Ägaisregion und habe eine klassische türkische Bildung durchlaufen. Bei diesem Bildungsweg bekommt man gewisse Vorurteile gegen Aleviten und Kurden indoktriniert. Zum Schluss meint man, sie seien bildungsferne Landbewohner, Bürger zweiter Klasse eben. Dementsprechend sagte ich einmal während meiner Zeit auf dem Gymnasium zu einem Freund, dass ich Aleviten hasse. Ich bekam die Antwort: „Aber ich bin auch einer.“

Bürger zweiter Klasse

In meinen Adern floss patriotisches Blut, auf das ich stolz war. Bis ich im Januar 2001 nach England auswanderte und dort selbst die Erfahrung machte, Angehörige einer Minderheit zu sein. Obwohl ich in England nie zu spüren bekam, Bürger zweiter Klasse zu sein. Ich habe dort die Möglichkeit bekommen, emigrierte Aleviten, Kurden und Türken aus Ostanatolien näher kennen zu lernen.

Meine Auswanderung aus der Türkei hat einen sehr persönlichen Hintergrund. Ich bin nicht religiös aufgewachsen und entdeckte erst Anfang 20 meine Religion. Mit 24 entschied ich mich fürs Kopftuch. Ich musste meine Familie und geliebte Stadt Istanbul verlassen, meine Karriere abbrechen und in die Ferne ziehen. Meine Istanbuler Lebensart hätte die schlechten Berufsperspektiven jener Tage und die Diskriminierung kopftuchtragender Frauen nicht ausgehalten.

Am 30. Mai brachte ich mein Kind um 9 Uhr zur Schule und setzte mich in den Bus in Richtung Taksim. Während der langen Fahrt kam ich mit der neben mir sitzenden Akademikerin ins Gespräch. Es ging um den Gezi-Park. Es war kaum nachvollziehbar, dass der Park als einziges Rückzugsgebiet an dem Platz in ein Einkaufszentrum umgewandelt werden sollte. Natürlich sollte es als Grünfläche erhalten bleiben. Als ich den Taksim-Platz erreichte, kam ich zum Park nur über Umwege, da auf dem Platz die Bauarbeiten weitergingen.

Arbeitsmaschinen und Betonmauern

Was hätte man nicht alles tun können, um einen Platz, den nur Fußgänger betreten dürfen, ansprechend zu gestalten? Kleine Teiche mit Entchen, Fußwege mit Saisonblumen und Schmetterlingen, ein kleines Tiergärtchen, Spielplätze für Kinder, Raucherkabinen (!) und Bäume mit großen Blättern… Meine Erwartungen ähnelten den Träumen eines Reisenden, der jüngst aus Europa kam. Als ich den Park erreichte, war ich kurz davor durchzudrehen, da überall Bauarbeiten vonstatten gingen und Arbeitsmaschinen und Betonmauern das Bild prägten.

Die zahlreichen Polizisten, die den Park umzingelten, erweckten den Eindruck, diese Arbeitsmaschinen schützen zu wollen, um der bunten Harmonie des Parks ein Ende zu setzen. Die erste Nachricht, die ich dort erfuhr, war, dass die Polizisten morgens um 5 Uhr die Zelte anzündeten und einen Jugendlichen schlugen, der auf einen Baum kletterte. Als ich dort ankam, wurde der Jugendliche zeitgleich in einem Krankenhaus operiert. In dem Moment erlebte ich meinen ersten Schock, da ich zuvor die Geschehnisse lediglich über die Monitore verfolgte.

Am Ende des Weges, der zum Gezi-Park führt, habe ich mich befreit gefühlt von der Vorherrschaft des Staates, so wie es in Matrix Neo gelingt, die Freiheit zu erlangen, indem er die Kabel aus seinem Körper schmerzhaft entfernt. Obwohl ich Schmerzen hatte, schaute ich mich um, um herauszufinden, was ich tun könnte. Ich habe Jugendliche gesehen, die Banner vorbereiteten. Ich half ihnen. Den neu aufgewachten Jugendlichen reichte ich Börek und Ayran. Ich habe den Park vom Anfang bis zum Ende abgetreten und sah Hippie-Mädchen, die Lappen an Bäume platzierten, Menschen, die sich über Umwelt und Ökologie unterhielten und sich im Recht sahen, Tische, an denen Unterschriften gesammelt wurden, Menschen, die unter den Bäumen lasen und Akademiker, die den Park als soziologisches Labor betrachteten…schon hatte ich mich wieder davon entfernt, die Feindschaft vor dem Militärputsch 1980 zu begreifen.

Als um 14 Uhr auf dem Park eine Plattform errichtet wurde, stand ich ganz vorne mit dabei. Eine Gruppe von etwa 200 Leuten, denen man anmerkte, dass sie aus unterschiedlichen Schichten stammten, waren sehr glücklich darüber am Park zu sein, da sie nun endlich die Gelegenheit hatten, ihrem Unmut über die „monarchischen“ Entscheidungen der AKP-Regierung Ausdruck zu verleihen. Ich kann die Szene nicht vergessen, wie jemand, dem man ein Mikrofon vor den Mund hielt, zornig beleidigende Worte gegen den Ministerpräsidenten aussprach. Alle, die an der Plattform standen, haben diesem Mann widersprochen und ihm gesagt, er solle auf seine Wortwahl achten, da man nicht provozieren wolle.

„Egal ob bedeckt oder nicht, wir sind alle hier“

Ein veganer Jugendlicher sagte, er sei zum Park wegen der Bäume gekommen, aber man solle auch Tierrechte nicht außer Acht lassen und kritisierte die am Park stehenden Frikadellen-Verkäufer. Ein Schüler hingegen sagte, die wenigen Grünflächen opfere man des Profits wegen und er wolle am Park auch gegen den Bau der dritten Brücke protestieren. Ein Gewerkschafter erklärte, man müsse Arbeiterrechte beachten und wies daraufhin, dass die Todesfälle von Arbeitern ernsthafter in Betracht gezogen werden sollten. Eine Dame, die sich als Hausfrau vorstellte, erklärte, sie sei zutiefst betroffen von dem Bild, das sie dort sah und betonte ihre Freude über die Einigkeit der Demonstranten, obwohl man verschiedenen Denkweisen angehöre. Sie zeigte auf mich und sagte: „Egal ob bedeckt oder nicht, wir sind alle hier.“

Um 14 Uhr wurden Journalisten zur Plattform nicht zugelassen, da sie vom Druck auf die Demonstranten seitens der Polizisten und Behörden nicht angemessen berichteten. Um 19 Uhr kam es zu einem erneuten Treffen und danach hatte sich die Menge aufgelöst und auch ich machte mich auf den Heimweg. Jeder hatte Hoffnung auf einen Kompromiss und man ging deshalb nach Hause. Man hätte auch länger bleiben können, alles war vorbereitet; das Wetter war schön und es war eine neue Erfahrung für die Jugendlichen, die neue Freundschaften knüpften.

Am nächsten Tag ging der Begriff „Die Plünderer“ in die Geschichte ein, als erste Beleidigung, die der Premierminister benutzte, um die Gezi-Demonstranten zu provozieren. Als ich meine Hände auf den Kopf legte und dachte, „Oh mein Gott, jetzt werden Millionen von Menschen dorthin strömen“, war es schon zu spät. Denn längst hatten sich Tausende auf den Weg zum Taksim-Platz gemacht.

Die Çapulcus sind los

Wir sprechen von einem Premierminister, der, seit dem er fünfzehn ist, stets in der Politik war, die Feinheiten dieses Geschäfts gut kennt und eigentlich wissen sollte, wohin unbedacht benutzte Worte hinführen und einen Dominoeffekt unter verschiedenen Gruppen verursachen können. Ob die Menschen ihn nun mögen oder eher ablehnen, sie waren es leid, ständig missachtet zu werden und wollten diesem Zustand ein Ende bereiten.

Aufgrund der Kopftuch-Problematik hatte ich mich 2001 entschieden, ins Ausland zu gehen. Auch die Ereignisse zuvor in Bezug auf die Kopftuch-Debatte hatten bei mir regelrecht zu einer Angst geführt. Als ich in Taksim diese Massen sah, verfestigte sich diese Angst in mir erneut, weshalb ich es nicht nochmal geschafft habe, mich an den Gezi-Protesten zu beteiligen. Der Angriff gegen eine bedeckte Frau in Kabataş hat meine Sorge rechtfertigt. Der Premierminister hatte mit diesem Vorfall meine sensible Seite aufgegriffen und mich regelrecht zugemauert. Aber das macht er immer. Der Premierminister greift die Empfindlichkeiten und Sorgen des Volkes sehr geschickt auf.

Das konservative Lager, dem ich angehöre, meine Nachbarn und selbst meine Verwandten hörten dem Premierminister nickend zu und verfluchten die Pläne der „externen Kräfte“ und diejenigen, die den Taksim-Platz füllten. Für die eine Seite war es ohnehin illegitim, dass Jugendliche sich gegen den Staat erheben. Meinen Versuch, die Wahrheit anzusprechen, habe ich inzwischen aufgegeben.

Der vergangene Sommer ist für mich sehr schmerzhaft vonstatten gegangen. Die Spannung zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP sowie das Grubenunglück von Soma haben bei meinen Freunden zum Umdenken geführt und sie haben sich bei mir entschuldigt. Die fünf Stunden, die ich im Gezi-Park verbracht habe, führten bei mir zu der wertvollsten Lehre meines Lebens und zu einer Erinnerung, von der ich noch meinen Enkelkindern erzählen werde. Das einzige, das ich bereue, ist, dass ich nicht nochmal an den Gezi-Protesten teilgenommen habe.