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Politik

Gleiches Spiel in der Türkei und in Brasilien?

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In der Türkei wie auch in Brasilien versammelten sich Menschen, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Die Auslöser für die Proteste sind unterschiedlich, auf den zweiten Blick gibt es jedoch auch einige Gemeinsamkeiten. (Foto: reuters)

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Gleiches Spiel in der Türkei und in Brasilien?
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Während einer Versammlung seiner Partei am 22.Juni sagte der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan: „Das gleiche Spiel wird nun in Brasilien gespielt. Die Anzeichen sind die gleichen, die Poster sind die gleichen, Twitter und Facebook werden auf die gleiche Art genutzt und die internationalen Medien sind die gleichen. Sie [die Demonstranten] werden vom gleichen Zentrum geführt… Sie geben ihr Bestes, um in Brasilien das zu erreichen, was sie in der Türkei nicht geschafft haben. Es ist das gleiche Spiel, die gleiche Falle, das gleiche Ziel.”

Erdoğans Bemerkung bietet einen guten Ausgangspunkt für einen Vergleich und eine Analyse von Massendemonstrationen, wie sie in den letzten Wochen sowohl in der Türkei als auch in Brasilien ausgebrochen sind.

Beginnen wir mit den Gemeinsamkeiten: Was der türkische Premierminister Erdoğan und Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff gemeinsam haben, ist, dass sie beide während ihrer Jugend Mitglieder von politischen Bewegungen waren, die nicht dem politischen Mainstream zuzurechnen waren (Erdoğan engagierte sich für diverse, dem Milli-Görüş-Gedanken zuzurechnende Parteiprojekte Necmettin Erbakans, Rousseff für eine marxistische Partei), beide haben als Regierende zu wichtigen wirtschaftlichen Erfolgen beigetragen und eine Demokratisierung in ihren Ländern vorangetrieben, die zur Verbreitung eines liberal gesinnten Bürgertums beigetragen hat.

In beiden Fällen Unterwanderungsversuche

Die Proteste in Istanbul begannen als Reaktion auf das Vorhaben, Bäume im Gezi-Park am Taksim-Platz zu versetzen, um Platz zu schaffen für den Wiederaufbau einer früheren osmanischen Kaserne des 19. Jahrhunderts, während in São Paulo die Erhöhung der Busfahrpreise auf 20 Cent die Proteste ausgelöst hatte.

Obwohl die Auslöser in beiden Ländern scheinbar triviale Gründe waren, reflektierten sie in Wirklichkeit tiefsitzende politische und sozioökonomische Missstände. Beide Proteste wurden mittels sozialer Medien organisiert, obwohl in São Paulo die „Freie Transport Bewegung” bereits acht Jahre zuvor von der damaligen Teenagerin Mayara Vivian, die heute 25 Jahre alt ist, eingeführt wurde.

In beiden Ländern wurden friedliche Proteste von gebildeten und akademisch gebildeten Jugendlichen aus der Mittel- und der Oberschicht geführt.

Es ist jedoch in beiden Fällen Militaristen, Rassisten, gewalttätigen Linken, Plünderern und Anarchisten zum Teil gelungen, die Protestbewegung zu infiltrieren und so Spannungen unter den Demonstranten auszulösen. Demonstranten beschuldigten in Brasilien die Medien, die Gewalt bei den Demonstrationen hervorzuheben und in der Türkei, Gewalt seitens der Polizei unter den Teppich zu kehren. Hier enden die Gemeinsamkeiten.

Unterschiede der Proteste

Bezüglich der Unterschiede ist zum einen einmal die jeweilige Reaktion der politischen Entscheidungsträger zu nennen. So bezeichnete Erdoğan die Demonstrationen als „Spiele von internen und externen Feinden sowie Interessenvertretern” mit dem Ziel der Diskreditierung und des Umsturzes gegen das Ergebnis demokratischer Wahlen. Rousseff hingegen qualifizierte die Demonstrationen als ein Zeichen einer demokratischen Reifung in ihrem Land, indem sie betonte, dass sie stolz darauf wäre und daraus lerne.

Während Erdoğan den Polizisten befahl, die Demonstrationen aufzulösen und die Beamten dabei zum Teil zu unverhältnismäßiger Gewalt griffen, die zum Tod von vier Menschen führte und zur Verwundung von mehr als tausend Personen, versprach Rousseff gründliche Reformen, um die Korruption zu bekämpfen und die öffentlichen Verkehrsmittel, Gesundheits- und Bildungsdienste zu verbessern, sogar eine Volksabstimmung zu diesen Themen soll stattfinden.

Erdoğan sah die Proteste als einen Angriff auf das Mehrheitsprinzip und nahm es nicht zur Kenntnis, dass sie eine Explosion lange angesammelter Unzufriedenheit mit seinem willkürlichen und autoritären Regierungsstil seit den letzten Wahlen vor zwei Jahren repräsentierte. Indem er die Polizisten dazu aufforderte, gewaltsam die Demonstranten zu unterdrücken, verschlimmerte er somit die ohnehin schon entstandenen Spannungen.

Skurrile Schelte der sozialen Medien

Rousseff wiederum sah die Proteste als eine Möglichkeit zum „Austoben” mit Blick auf die Spannungen, die sich auf Grund der vielen Missstände gebildet hatten.

Kein Politiker in Brasilien sah die Proteste wie Erdoğan, nämlich als ein von fremden Kräften gesteuertes Spiel mit dem Ziel, der Wirtschaft des Landes zu schaden und dessen Aufstieg zur Weltspitze zu untergraben, obwohl es bekannt ist, dass es ohne Funken kein Feuer gibt.

Kein Politiker in Brasilien dachte daran, die sozialen Medien als einen „Fluch” zu bezeichnen, so wie Erdoğan es tat, da man sich darüber einig ist, dass soziale Medien der Demokratie durch die Bereitstellung von Mitteln für eine breitere Beteiligung der Bürger an der Politik dienen – und das ist der Grund, warum autoritäre Regierende sich so sehr davor fürchten.

Ich danke meinem Kollegen Lourival Sant Anna von „O Estado” aus São Paulo für die Einblicke in die brasilianischen Angelegenheiten.

Autoreninfo: Şahin Alpay (*1944 in Balıkesir) ist ein türkischer Schriftsteller, Kolumnist und Buchautor. Der Politikwissenschaftler promovierte an der Universität Stockholm in Schweden. Nachdem er für Cumhuriyet, Sabah und Milliyet gearbeitet hatte, schreibt er heute Kommentare für Zaman.