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Politik

Gleichschaltung der Medien: Daran ist nicht nur die AKP schuld

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Die fortgesetzte Einschränkung der Grundrechte in der Türkei ist kein Problem, das vom Himmel gefallen ist. Die Gründe, warum eine solche Entwicklung möglich ist, liegen tiefer, in der politischen Kultur des Landes.

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Die Türkei hat diese Woche erneut schwarze Tage erlebt. Die Fernsehsender Bugün TV und Kanaltürk wurden zum Schweigen gebracht. Die Kollegen haben bis zuletzt gesendet. Es geschah alles am hellichten Tag, vor unser aller Augen.

Wie konnte es so weit kommen?

Hinter der Aktion steckt Recep Tayyip Erdoğan. Das heißt aber nicht, dass er die alleinige Verantwortung trägt. Ein Politiker sollte seinen Machtgelüsten nicht nachgeben, er sollte – um es mit Max Weber zu sagen – Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß verbinden. Doch es kann auch vorkommen, dass ein Politiker Schwäche zeigt. Es liegt dann an der Gesellschaft, an den gesellschaftlichen Gruppen, staatlichen Institutionen, ihn in seinen Schranken zu weisen.

Gelegenheit dazu gab es bisher. Nach den Wahlen am 7. Juni hätte die Opposition die AKP theoretisch entmachten können, war dazu aber nicht in der Lage. Die gegenseitige Abneigung war stärker als der Unmut über die AKP. Für die heutige Situation tragen alle eine Mitverantwortung.

Versagen der Religiös-Konservativen

Schauen wir zunächst das Regierungslager an. Umfragen sehen die AKP bei circa 40 Prozent. In einem normalen Land hätte eine Partei mit solch einem miserablen ’Führungszeugnis’ von den Wählern gnadenlos abgestraft werden müssen. Von Regierungsverantwortung ganz zu schweigen – sie hätte das Recht auf Opposition verwirkt. Tastsächlich ist sie aber die stärkste politische Kraft des Landes. Schaut man sich die Wähler der AKP näher an, so sieht man größtenteils religiös gesinnte, konservative Menschen.

Sie geben sich religiös, werteverbunden. Sie sind diejenigen, die Religion am intensivsten praktizieren, Werte am lautesten für sich reklamieren. Das hält sie aber nicht davon ab, eine Regierung zu unterstützen, die mit massiven Korruptionsvorwürfen konfrontiert ist. Sie beten zwar, zeigen sich aber nicht rechtsbewusst. Sie sprechen viel von Moral, haben aber keine Ahnung von Ethik. Es scheinst so zu sein, dass alles, was sie unter Moral verstehen, die Sexualität betrifft, vor allem die der Frau.

Die religiösen Führer, muslimische Theologen, müssen sich auch einige Kritik gefallen lassen. Besonders die traditionellen Theologen kritisieren  diese und jene Traditionen, geben an, den Islam am besten zu interpretieren. Sie sagen, dieser oder jene interpretiere die Quellen falsch, drohen Abweichlern mit Höllenstrafen. Über Detailfragen, wie man sich beim Gebet hinstellen soll oder Ähnliches können sie Auskunft geben. Aber zu einer politischen Partei, die die Religion für ihre Politik instrumentalisiert und missbraucht, Werte derart mit Füßen tritt, das Eigentum Anderer an sich reißt – dazu haben sie nichts zu sagen. Wir erleben sogar religiöse Würdenträger, die sich für die AKP stark machen, Wählern anderer Parteien verdeckt oder offen mit der Hölle drohen. Wie soll man den metaphysischen Voraussagen derjenigen glauben, die auf der physischen Ebene dermaßen versagen?

Die Türkei  hat es mit einer Partei zu tun, die vorgibt, Religion zu fördern. Dabei missachtet sie Recht und Gesetz. Trotzdem erwecken sie den Eindruck, alles reinen Gewissens zu tun. Diese Leute sind besonders gefährlich, die Unrecht tun, aber alles, was sie tun, als von höherer Stelle legitimiert sehen.

Versäumnis der Oppositionellen

Auch die Opposition verdient Kritik. Rechnerisch hätten sie eine Mehrheit von 60 Prozent, nutzt sie aber nicht. Der Grund: Sie können sich auf keinen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen. In was für einem Staat, in was für einer Gesellschaft wollen sie leben? Darüber können sie kein Konsens herstellen.

Dazu muss die Feigheit mancher Oppositionsmedien zu zählen. Als die Medienhäuser Bugün TV und Kanaltürk von der Polizei gestürmt wurden, hat so mancher Nachrichtensender wie CNN Türk oder Haber Türk etwas anderes gesendet. Am mangelnden Nachrichtenwert kann es nicht liegen.

Wie es weitergeht

All das hat die heutige Entwicklung möglich gemacht. Doch wie geht es weiter?

Mit den Fernsehsendern haben sich viele solidarisiert. Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu hat den Sender besucht, ebenso Selahattin Demirtaş von der pro-kurdischen HDP. Abgeordnete aus allen drei Oppositionsparteien CHP, MHP und HDP waren vor Ort.

Vielleicht ist das der Anfang einer lagerübergreifenden Solidarität im Land. Vielleicht ist das der Anfang eines Konsenses, dass man seine Eigenheiten pflegt, aber auf dem Boden der Demokratie zusammenkommt, sich auch für die Rechte derer einsetzt, die anders sind als man selbst.

Am Sonntag, dem 1. November, sind Wahlen. Die Krise ist eigentlich ein Lackmustest für die Demokratiefähigkeit der türkischen Gesellschaft. Alle werden eine Entscheidung treffen müssen. Niemand wird sagen können, ich habe von alldem nichts gewusst.

Entweder werden die Türken sich für eine Ein-Mann-Diktatur entscheiden, die religiös verbrämt ist. Dann werden sie mit den Folgen leben müssen. Sie werden mit einer von Propaganda geschönten Welt leben. Aber in ihrem Alltag wird es härter werden. Über die Mängel ihres Alltags werden sie sich mit dem Prunk des Erdoğan-Palastes hinwegtrösten müssen. Vielleicht werden sie das Leid militärischer Abenteuer tragen müssen.

Oder sie werden aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Sie werden sich über eine neue Demokratie einigen – die Türken, Kurden, Sunniten, Aleviten, Minderheiten, sie alle. Die Entscheidung liegt bei ihnen.