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Gesellschaft

Gleichzeitig deutscher und türkischer, religiöser und weniger religiös

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Deutschtürken werden gleichzeitig weniger gläubig und mehr religiös. Sie fühlen sich wohl, aber ausgegrenzt. Sie sind deutscher geworden, pochen aber stärker auf ihre Identität als Türken. Das sind die Ergebnisse einer heute vorgestellten Studie, die viel über die Verhältnisse in unserer Gesellschaft verrät.

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Junge Türken tanzen beim Straßenfest zum 1. Mai am Samstag (01.05.2010) in Berlin-Kreuzberg
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Deutsche mit türkischen Wurzeln fühlen sich hierzulande wohl – und das, obwohl sie sich nach wie vor als benachteiligt empfinden. Gleichzeitig werden sie immer weniger religiös – betonen ihre Religiosität jedoch umso mehr. Deutschtürken sind immer mehr mit der deutschen Gesellschaft zusammengewachsen – pochen aber mehr denn je auch kulturelle Selbstständigkeit.

Zu diesen, nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Ergebnissen kommt eine heute in Berlin vorgestellte Emnid-Umfrage, die im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster durchgeführt wurde. Nachdem gestern erst die umstrittene Studie „Die enthemmte Mitte“ vorgestellt wurde, die sich fremdenfeindlichen und radikalen Positionen der deutschen Mehrheitsgesellschaft widmete, wird heute dem deutsch-türkischen Teil der Gesellschaft auf den Zahn gefühlt.

Der Studie zufolge bekunden 90 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln ein hohes Wohlbefinden hierzulande und fast ebenso viele eine sehr enge bis enge Verbindung sowohl zu Deutschland als auch zur Türkei. Gleichzeitig klagt mehr als die Hälfte über fehlende soziale Ankerkennung hierzulande.

Die Ergebnisse zeigen auch, dass die Kinder und Enkel der türkischen Migranten im Vergleich zur ersten Generation weniger glaubensstreng leben. Sie beten seltener und gehen weniger häufig in die Moschee, Frauen tragen seltener ein Kopftuch. Das hindert die Jüngeren aber nicht daran, sich selbst als stark religiös zu beschreiben. 62 Prozent der Angehörigen der ersten Generation bezeichneten sich selbst als sehr religiös. Unter ihren Nachfahren waren es sogar 72 Prozent. Der Leiter der Untersuchung, der Münsteraner Religionssoziologe Detlef Pollack, stellte dazu fest: „Möglicherweise spiegeln die Antworten auf diese Frage weniger die ‚tatsächlich gelebte‘ Religiosität wider als vielmehr ein demonstratives Bekenntnis zur eigenen kulturellen Herkunft.“

Dazu gehört offensichtlich auch, dass fast jeder Zweite die islamischen Gebote wichtiger als die deutschen Gesetze findet. 47 Prozent der befragten Muslime mit türkischen Wurzeln stimmten dem Satz zu „Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe“. Was auffällt: Unter den Zuwanderern der ersten Generation ist die Zustimmung zu dieser Aussage mit 57 Prozent deutlich höher als bei ihren Nachkommen. In der zweiten und dritten Generation vertreten 36 Prozent diese Ansicht.

Der übergroße Teil ist besser integriert und selbstbewusster, es gibt aber auch mehr Radikale

Der Studie zufolge sind die Angehörigen der zweiten und dritten Generation zwar in vielem besser integriert als die Gastarbeiter von einst. Das lässt sich am Zuwachs bei Schulabschlüssen, Deutschkenntnissen und Kontakten zu Deutschen erkennen. „Allerdings pocht die zweite und dritte Generation weit mehr auf kulturelle Selbstbehauptung als die erste“, sagte Pollack.

Dazu passt auch, dass sich die aus der Türkei stammenden Menschen zwar insgesamt seltener benachteiligt fühlen als die Ostdeutschen. Auf der anderen Seite mangelt es ihnen aber an Anerkennung. 54 Prozent von ihnen identifizieren sich mit der Aussage, „Egal, wie sehr ich mich anstrenge, ich werde nicht als Teil der deutschen Gesellschaft anerkannt“.

Viele der hier lebenden Menschen mit türkischen Wurzeln haben zudem das Gefühl, der Islam werde zu Unrecht mit Gewalt und Fanatismus in Verbindung gebracht. Die Befragten schrieben dem Islam vor allem positive Eigenschaften wie Toleranz und Friedfertigkeit zu. Über 80 Prozent erklärten zugleich, es mache sie wütend, wenn nach einem Terroranschlag als erstes Muslime verdächtigt würden. Ihre Religion wollen sie mehr geschützt sehen: Drei Viertel plädierten für ein Verbot von Büchern und Filmen, die Gefühle tief religiöser Menschen verletzen. Zwei Drittel meinten, der Islam passe in die westliche Welt – 73 Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland meinen das Gegenteil.

Die Autoren der Studie sehen allerdings auch einen Zusammenhang zwischen dem in Deutschland weit verbreiteten negativen Bild des Islam und den dogmatischen Einstellungen, die ein Teil der in Deutschland lebenden Muslime vertritt. Pollack sprach von einem „beträchtlichen Anteil an islamisch-fundamentalistischen Einstellungen, die schwer mit den Prinzipien moderner Gesellschaften zu vereinen“ seien. So stimmten 32 Prozent der von Emnid befragten Türkeistämmigen der Aussage zu, die Muslime „sollten die Rückkehr zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten des Propheten Mohammeds anstreben“. 36 Prozent von ihnen waren der Ansicht, nur der Islam sei in der Lage, „die Probleme unserer Zeit zu lösen“. 23 Prozent vertraten die Auffassung, Muslime sollten es vermeiden, dem anderen Geschlecht die Hand zu schütteln. Der Aussage, „Gewalt ist gerechtfertigt, wenn es um die Verbreitung und Durchsetzung des Islam geht“ stimmten sieben Prozent zu. Nach Pollacks Einschätzung lag bei 13 Prozent der Befragten ein verfestigtes fundamentalistisches Weltbild vor.

Emnid befragte nach eigenen Angaben gut 1.200 Zuwanderer aus der Türkei und ihre Nachkommen ab 16 Jahren zwischen November 2015 und Februar 2016. 40 Prozent der Befragten wurden in Deutschland geboren. Laut Statistischem Bundesamt lebten 2014 rund 2,9 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland. (dtj/dpa/kna)