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Gesellschaft

„Wenn Schuld verallgemeinert wird, nennt man das Rassismus“

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Die Griechenland-Krise ist auch in der Türkei ein Thema. Herkül Millas kam in Ankara auf die Welt und kennt sowohl die Türkei als auch Griechenland sehr gut. Wir sprachen mit ihm über das Referendum und das türkisch-griechische Verhältnis.

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Der türkisch-griechische Autor und Politikwissenschaftler Herkül Millas ist in der Türkei geboren und lebt seit Jahrzehnten in Griechenland. Er erlebt die aktuelle Krise in Griechenland am eigenen Leibe und sieht das Problem nicht in der „Faulheit oder dem Fleiß der Griechen“, sondern an der Wirtschaftsstruktur des Landes. Im DTJ-Interview spricht Millas nicht nur über die Krise, sondern auch über die schwierige Beziehung zwischen Türken und Griechen. Sein Lebensweg verkörpert diese schwierige Beziehung, die von nicht wenigen als Erbfeindschaft bewertet wird.

Herr Millas, Sie sind als Grieche in der Türkei geboren, leben aber in Athen und das in Zeiten eine der größten Krisen, die Griechenland je erlebt hat. Wie haben Sie das Ergebnis des Referendums vom Sonntag aufgenommen, bei dem die Griechen mit ‚Oxi‘ gestimmt haben?

Wie bei Referenden üblich, gibt es Gewinner, die sich über das Ergebnis freuen und Verlierer, die den Ausgang als Katastrophe für das Land sehen.

Wer sind die Gewinner?

Die regierende linke Syriza-Partei, ihr kleiner Koalitionspartner, die rechtsextreme ANEL, und die rassistische Goldene Morgenröte waren für das Referendum und forderten die Griechen auf, mit einem ‚Nein‘ zu stimmen. Sie alle freuen sich über das Ergebnis. Es gibt Leute, die glauben, dass der Sozialismus gekommen ist, dass sie eine europaweite linke Bewegung anführen. Sie glauben, dass auf uns schöne Tage warten: Wohlstand, neue Einstellungen im Staat, Hilfen für die Armen, Erhöhungen der Löhne. Sie glauben, dass die wirtschaftliche Krise von ‚Anderen‘ zu verantworten ist. Sie halten den Nationalstolz hoch, erachten jedoch die Verschuldung und die langen Schlangen vor den Banken als nicht so wichtig.

…und die Verlierer?

Das sind die, die Trauer empfinden. Diese haben gesehen, dass am Ende der fünf Monate andauernden Verhandlungen das gesamte Europa mit seinen Staaten und Völkern sich gegen Griechenland verbündet hat. Sie sind in Sorge um die Isolation Griechenlands. Sie haben gesehen, dass die ersten Glückwunschbotschaften aus dem Ausland von Marine Le Pen, der Chefin der rechtsextremen französischen Front National, und von Nigel Farage, dem Chef der ebenfalls rechtsextremen und europafeindlichen Partei UKIP aus England gekommen sind. Diese Lager befürchten, dass unter diesen Umständen die Einkünfte aus dem Tourismus wegbrechen könnten, der eine wichtige Einnahmequelle für das Land bildet. Auch als Familie sind wir enttäuscht. Unsere Kinder haben auch aus Sorge vor chaotischen Zuständen darauf verzichtet, in diesem Sommer nach Griechenland zu kommen. Das heißt für uns, dass wir unsere Enkelkinder nicht sehen werden.

Was ist die Ursache für die Krise? Populistische Kreise in Europa meinen, die Griechen seien faul.

Ich habe in letzter Zeit zu diesem Thema sehr viel geschrieben. Es ist sehr schwierig, da das Wesentliche herauszuarbeiten. Es ist nicht in Ordnung, ein ganzes Volk als faul darzustellen. Natürlich gibt es in Griechenland faule Menschen, so wie es auch fleißige gibt. Das Problem ist in der wirtschaftlichen Struktur zu suchen. Griechenland braucht strukturelle Reformen. Also: Weg von Beamtenmentalität, hin zu mehr Wettbewerbsdenken.

Vor einigen Wochen wurde die These geäußert, die jetzige Krise hätte auch etwas mit überhöhten Verteidigungsausgaben zu tun, unter anderem wegen der Türkei. Stimmt das?

Griechenland hatte auf vielen Feldern zu viele Ausgaben. Das wesentliche Problem bestand in einem aufgeblähten Staatsapparat mit zu großen Ausgaben. Dazu gehören auch die für die Verteidigung. Sie sind aber nicht der Hauptgrund.

Wie sehen Sie die Zukunft Griechenlands?

Die Zukunft wird auf jeden Fall schwierig. Das Land ist am Boden, schlimmer wird und kann es wohl nicht mehr werden. Aber es wird lange dauern, bis Normalität einkehrt.

Kommen wir zu Ihrer Person. Sie schreiben Meinungsartikel in Zaman, in der auflagenstärksten Zeitung der Türkei. Wie fing ihre Mitarbeit bei Zaman an?

Ich schreibe für Zaman seit 2002. Mittlerweile sind das 13 Jahre, und zwar ohne Unterbrechung. Angefangen hat es mit der Bekanntschaft mit dem Athen-Korrespondenten von Zaman, Doğan Ertuğrul. Später habe ich Eyüp Can kennengelernt. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns. Ich bin mit beiden zu unterschiedlichen Zeiten nach Ayranos gereist. Für diejenigen, die es nicht kennen: Ayranos (Ayion Oros / Heiliger Berg) ist eine beeindruckende Mönchsrepublik im Norden Griechenlands. Nur Männer haben dort Zutritt. Eyüp Can war damals für Meinungsseiten von Zaman verantwortlich. Der Vorschlag, für Zaman zu schreiben, kam von ihm.

Wie fallen die Reaktionen der Leser aus?

Bislang habe ich positive Reaktionen erhalten. Lediglich eine Zeit lang musste ich wegen meines eigentlich satirisch gemeinten Artikels über Nationalismus harte und unangebrachte Kritik einstecken. Die Kommentare zu meinem Artikel habe ich gesammelt – und zwar positive wie negative – und zusammen mit meinen bis 2008 erschienen Beiträgen als Buch veröffentlicht.

Sie sind Bauingenieur, zugleich aber auch Politikwissenschaftler. Keine gängige Kombination.

1965 habe ich mein Studium an der Robert Koleji (heute Boğaziçi Üniversitesi) als Ingenieur abgeschlossen. Nach dem Wehrdienst habe ich zwanzig Jahre lang neben der Türkei und Griechenland auch in Bahrain, Katar, Indonesien und Saudi-Arabien gearbeitet. Zuerst war ich für Firmen tätig, später habe ich jedoch mein eigenes Unternehmen gegründet. Gegen Ende der 1980er Jahre wollte ich endlich das machen, was ich schon immer tun wollte. Ich habe mein Berufsleben beendet und mich der Literatur und Geschichte gewidmet. Mittlerweile habe ich zwanzig Bücher übersetzt, in erster Linie handelt es sich dabei um griechische und türkische Gedichte.

Da ich mittlerweile in türkischen Literatur-Kreisen bekannt war, erhielt ich ein Angebot von der Universität Ankara. Ich sollte dort die Abteilung für Zeitgenössische Griechische Sprache und Literatur aufbauen. Ich habe das Angebot angenommen und vier Jahre dort unterrichtet. Freunde, die mich aus der Zeit des Robert Koleji kannten, empfahlen mir, in Politikwissenschaften zu promovieren. Ich war somit fünf Jahre lang sowohl Student als auch Dozent.

Meine ersten beiden Bücher stammen aus dieser Zeit und handeln von der Geburt der Griechischen Nation und davon, wie jeweils der Andere in griechischen und türkischen Romanen dargestellt wird. Das Thema beschäftigte mich schon seit meiner Tätigkeit als Ingenieur.

Bei den sogenannten Ereignissen vom 6. und 7. September 1955 wurde die Schneiderei Ihres Vaters in Istanbul geplündert; 1964 wurde er ausgewiesen. Sie selbst haben die Türkei 1971 verlassen. Wenn man Ihre Biographie liest, könnte man meinen, dass Sie reichlich Grund hätten, der Türkei gegenüber feindlich gesinnt zu sein. 

Natürlich gibt es eine Missstimmung in mir, ja sogar Zorn. Aber nicht gegenüber dem türkischen Volk, sondern den Machthabern von damals. Ich habe mich von Verallgemeinerungen bereits in meinen jungen Jahren verabschiedet. Wenn Schuld verallgemeinert wird, so nennt man das Rassismus. Ich sehe Völker oder Länder nicht als einheitliche Blöcke. In jedem Land finden sie solche und solche Menschen.

Um noch einmal auf die Plünderungen vom 6. und 7. September 1955 zu sprechen zu kommen: Stellt sich die türkische Gesellschaft ihrer Vergangenheit?

Kein Land zeigt von sich aus die Bereitschaft, sich seiner Vergangenheit voll und ganz zu stellen. Alle Staaten sind heutzutage Nationalstaaten. Nationalismus stützt sich zu großen Teilen auf Mythen und Legenden. Dabei wird die Vergangenheit so konstruiert, dass sie das Eigene im guten Licht erscheinen lässt. Sich der Vergangenheit zu stellen, heißt, nationale Mythen ins Wanken zu bringen. Nationen und besonders Nationalisten widersetzen sich dem, weil sie dadurch ihre Identität bedroht sehen.

Das war jetzt sehr allgemein. Was heißt das für die Türkei?

Ich sehe zwei unterschiedliche Entwicklungen in der Türkei: Es gibt diejenigen, die fordern, sich der Vergangenheit zu stellen und diejenigen, die sich dagegen vehement wehren. Das Problem besteht darin, dass die Positionen sich nicht in einem demokratischen Diskurs begegnen, sondern als heftiger Streit ausgetragen werden. Die Aufarbeitung der Vergangenheit ist ohne Demokratie und, um es klarer zu formulieren, ohne die Gewährleistung der Meinungsfreiheit, sehr schwierig. Die Türkei befindet sich in der Frage der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit auf dem Stand, an dem sie sich auch in Bezug auf Demokratisierung befindet.

Die Osmanen waren sehr lange in Griechenland und haben Spuren im Land und der Sprache hinterlassen. Sie haben Türkisch unterrichtet. Wie war das Interesse? 

Das Interesse an der Türkei und dem Türkischen in Griechenland ist besonders nach 2000 stark gewachsen. Dies hat auch mit der fortgeschrittenen Kommunikationstechnologie zu tun. Früher konnte man die Zahl derer, die die Sprache der anderen Seite sprachen und beispielsweise Übersetzungen machten, an einer Hand abzählen. Mittlerweile besuchen hunderte Jugendliche das Nachbarland, studieren jeweils in dem anderen Land. Die Welt verändert sich.

Ein Ergebnis Ihrer Arbeit an beiden Sprachen ist die Feststellung, dass das Türkische und das Griechische über 5000 gemeinsame Wörter und 1300 Redewendungen verfügen. Sind sich die Türken und die Griechen dieser Gemeinsamkeit bewusst?

Die Frage steht in Beziehung zu den Mythen, die ich schon erwähnt habe. Jedes Volk glaubt, dass es etwas Besonderes ist. Die Völker weisen viele Schnittstellen auf. Gegenseitige Beeinflussung und ein Nehmen und Geben auf allen Gebieten ist etwas ganz Grundsätzliches. Das betrifft auch die Sprache. Gemeinsame Redewendungen sind Zeugnis einer gemeinsamen Vergangenheit.

Es gibt einige gemeinsame Begriffe, die es in dieser Form nicht bei anderen europäischen Völkern gibt. Sowohl Griechen als auch Türken sagen vor dem Essen, wenn sie zum Tisch bitten, ‚Buyrun‘ (‚Oriste‘); bei Genesungswünschen ‚Geçmiş olsun‘ (‚Perastika‘). Dabei benutzen beide das Verb geçmek (vorüber gehen / vergehen). Wenn sie auf die Schnelle beim Stehen etwas essen wollen, sagen beide Völker ‚Ayak üstünde bir şeyler yiyelim‘ (‚Na fame kati sto pothi‘).

In Europa gewinnen Populisten an Zustimmung. Jüngstes Beispiel ist Dänemark, wo eine rechtspopulistische Partei die zweitstärkste politische Kraft geworden ist. Erlebt Europa die Rückkehr des Nationalismus?

Es ist sehr wichtig, was sie mit Nationalismus meinen. In unserem Jahrhundert sind alle Staaten Nationalstaaten. In dieser Hinsicht sind sie alle national und nationalistisch. Es kommt auf die politische Programmatik an. Ein Nationalstaat kann auf Kompromiss, Multikulturalität und Toleranz ausgerichtet sein; aber auch fremdenfeindlich und rassistisch. Einige nennen die zweite Variante Nationalismus. Es kommt also auf die Definition an.

Die wirtschaftliche Situation und die Bildung spielt hier eine wichtige Rolle. Wir fördern rassistisches Denken, rassistischen Diskurs und bilden heranwachsende Generationen rassistisch. Dann beklagen wir uns über wachsenden Rassismus. Das ist ein krasser Widerspruch und Heuchlerei. Hoffentlich zahlen wir nicht einen zu hohen Preis für diesen Fehler.

Wo möchten Sie in 20 Jahren beide Völker sehen?

Ich möchte alle Völker der Erde weitgehend von Mythologien befreit sehen. Es wäre Dummheit, unser Leben mit Streitereien zu vergeuden.