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Geschichte

„Hadschi Bektasch Veli steht für Werte, die nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben“

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Hadschi Bektasch Veli ist eine in Deutschland weniger bekannte Persönlichkeit, auf den sich die Aleviten berufen. Erstmals erscheint ein Buch auf Deutsch, das sich mit seinem Leben und seinen Lehren beschäftigt. Wir sprachen mit dem Autor.

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Arhan Kardas
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Von dem Schweizer Schriftsteller Max Frisch stammt der berühmte Satz „Wir haben Arbeiter gerufen und es sind Menschen gekommen“. Menschen, die nicht mehr zurückkehren werden und ein Teil dieser Gesellschaft geworden sind – mit ihrer Kultur, Religion und Sprache, die sich im Wandel befinden.

Durch die türkischen Gastarbeiter sind aber auch Volksdichter und Sufi-Meister, Philosophen und Staatsmänner als Kulturgut nach Deutschland gekommen. Diese Persönlichkeiten haben in Gegenwart und Geschichte der Türkei gelebt und gewirkt. Einige von ihnen, wie z.B. Mevlânâ oder Yunus Emre, kennen viele. Ihren Zeitgenossen Hadschi Bektasch Veli (türk. Hacı Bektaş Veli), auf den sich die anatolischen Aleviten berufen, hingegen wenige.

Das Buch „Aleviten und Bektaschis“ behandelt Leben, Regeln und Werke dieses bedeutenden Sufi-Meisters. Wir sprachen mit dem Chefredakteur des Main-Donau-Verlags und Mitautor des Buches Arhan Kardaş über das Buch und die Bedeutung von Hadschi Bektasch Veli für die Gegenwart.

Warum ein Buch über Hadschi Bektasch Veli und seine Lehren?

Mevlânâ, Yunus Emre und Hadschi Bektasch Veli haben im 13. Jahrhundert gelebt. Mevlânâ und Yunus Emre sind in Europa mehr oder weniger bekannt. Nicht jedoch Hadschi Bektasch Veli. Es gibt kein Werk von ihm in deutscher Sprache. Es gab sozusagen eine „Marktlücke“. Übrigens wollten wir neben den mündlichen, zum Teil sachlich nicht belegbaren Traditionen, auf die Schriftquellen des Alevi/ Bektaschitums aufmerksam machen.

Wer ist die Zielgruppe des Buches?

Zum einen natürlich alle deutschsprachigen Leser. Insbesondere aber wollen wir mit dem Buch sowohl Sunniten als auch Aleviten erreichen. Wir wollten ein Werk vorlegen, das fundierte Kenntnisse über so eine bedeutende Persönlichkeit bietet. Denn Hadschi Bektasch Veli ist eine feste Größe im türkischen Islam– nicht nur für die Aleviten.

Es sind Jahrhunderte nach seinem Tod vergangen. Was ist überhaupt noch über ihn bekannt?

Er stammt aus Chorasan. Dieser Name bezeichnet eine Region, die sich heute auf Teile des Iran, Zentralasiens und Afghanistans erstreckt. Er war ein Zeitgenosse Mevlânâs und siedelte in Sulucakarahöyük, heute Hacıbektaş in der Provinz Nevşehir. Historiker gehen davon aus, dass er zwischen 1209 und 1273 gelebt hat. Über die genauen Jahreszahlen gibt es jedoch unterschiedliche Überlieferungen.

Wie sicher ist das Wissen über sein Leben und Wirken?

Das meiste Wissen stützt sich auf das Werk Velayetname. Zum Teil ist dieses Werk mythischer Natur, so dass nicht alles, was es enthält, objektiven Maßstäben gerecht werden kann. Aber es gibt auch andere Quellen, in denen Hadschi Bektasch und sein Wirken dargestellt werden.

Die (vor-)osmanische Gesellschaft war eine multi-ethnische. War Hadschi Bektasch Veli tatsächlich türkischer Abstammung?

In dem Werk Velayetname wird seine Abstammung auf den Propheten Mohammed zurückgeführt. Er ist in Nischapur geboren, das im heutigen Iran liegt. Er sprach türkisch, arabisch und persisch, verfasste seine Werke in Persisch und Arabisch. Er richtete seine mündliche Botschaft in erster Linie an die nomadischen Turkmenen.

Welche Beziehung gibt es zwischen Hadschi Bektasch Veli und Mevlânâ sowie Yunus Emre?

Sie weisen einen ähnlichen Geist, eine ähnliche Denkweise auf. Yunus Emre, der berühmte türkische Volksdichter, war in seinen jungen Jahren ein Bektaschi. Gegen Ende seines Lebens sehen wir bei ihm jedoch eine Annäherung an Mevlânâ. Hadschi Bektasch Veli hat seine Lehre zusammengefasst in der Formel „Vier Tore, 40 Stufen“ (4 kapı 40 makam“), er sprach von der Erkenntnisleiter Şeriat-Tarikat-Hakikat und Marifet. Auf Deutsch würde man sagen: Die Lehre – der Weg – die Wahrheit und die Gotteserkenntnis.

Es gibt unterschiedliche Überlieferungen über die Haltung von Hadschi Bektasch in Bezug auf die Scharia.

Es ist bekannt, dass er kein Vertreter der orthodoxen Lehre war. Was wir wissen ist, dass er sich in eine Moschee zurückgezogen und den Großteil seines Lebens in einem Dergah (vergleichbar mit einem Kloster, Anm. d. Redaktion) verbracht hat. Er widmete sich der Askese. Im Werk Makâlât wird das Tor Şeriat (Die Lehre) als die erste Stufe zur Gotteserkenntnis kennzeichnet, in der auch die fünf Säulen des Islams als Voraussetzung erwähnt werden.

Was können Sie über die Beziehung der religiösen Strömung des Bektaschi-Ordens sagen, die auf Hadschi Bektasch zurückgehen und ihrer Beziehung zu den Janitscharen-Truppen in der Frühzeit der Osmanen?

Das Korps der Janitscharen (von türk. yeni çeri, Anm. d. Red.) wurde zur Zeit des zweiten osmanischen Herrschers Orhan gegründet, dem Sohn des Gründers des Reiches, Osman. Wir wissen, dass sie den Bektaschis verbunden waren. Historiker gehen davon aus, dass bei der Gründung der Janitscharen der Sohn von Hadschi Bektasch, Timurtaş, und der Sohn Mevlânâs, Sultan Veled, beziehungsweise dessen Sohn dabei waren und ihren Segen gegeben haben.

Die Alevi-Bektaschis haben also bei der Gründung des Osmanischen Reiches eine wichtige Rolle gespielt. Heute sehen wir aber, dass das Verhältnis von Aleviten zur Osmanischen Zeit getrübt ist. Wie kam es zu dem Bruch?

Bis zum 9. Sultan, Yavuz Selim, hatten sie kein Problem mit dem Osmanischen Reich. Der Bruch fing erst als Folge politischer Ereignisse an. Das beginnt mit der Auseinandersetzung zwischen den Osmanen und dem Safawidischen Reich im heutigen Iran. 1514 gab es einen Krieg zwischen den beiden Mächten. Die Aleviten insbesondere im Gebiet zwischen dem safawidischen und osmanischen Territorium wurden Opfer dieser politischen Auseinandersetzungen. Sultan Yavuz Selim ging gegen die Aleviten hart vor – genauso wie Şah Ismail (Gründer des Safawidischen Reiches, Anm. d. Red.) gegen die Sunniten.

Man darf nicht außer Acht lassen, dass für die Aleviten Şah Ismail einer der bedeutendsten Dichter und Yavuz Selim hingegen ein „böser“ Sultan ist. Dieser Vergleich lässt sich allerdings auf Reichsebene nicht bestätigen. Denn es leben im heutigen Iran keine Aleviten mehr. Das Alevitentum im Gebiet des Şahs (heutiger Iran) wurde aufgrund der Zwangsschiitisierung vollkommen ausgelöscht. Das Alevitentum, zudem sich die Aleviten bekennen, gibt es heute ausschließlich in Anatolien und auf dem Balkan.

Welche Bedeutung hat Hadschi Bektasch Veli für die Gegenwart?

Der Name Hadschi Bektasch steht für Toleranz, für Menschenliebe und für Bescheidenheit. Einer seiner berühmtesten Sprüche lautet: Verletze niemanden, auch wenn du verletzt wirst (İncinsen de incitme!). Das sind zeit- und kulturübergreifende Werte, die bis heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren haben. Im Gegenteil.

Hüseyin Özcan, Arhan Kardas: Der Lehrmeister der Aleviten & Bektaschis. Leben, Regeln und Werke von Haci Bektas Veli, Main-Donau Verlag, Frankfurt am Main, 2015.