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Gesellschaft

„Ich habe den Evros überquert“: Das schwierige Leben als Hizmet-Anhänger

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Halil Dinç ist bekannt geworden mit seinem Gedicht über sein Leben als Hizmet-Anhänger in der Türkei. Vergangenes Jahr starb Dinç in Griechenland. Nun schreibt seine Ehefrau einen emotionalen Brief über die Schwierigkeiten des Lebens als Anhänger der Hizmet-Bewegung.

Der Putschversuch im Juli 2016 in der Türkei: Ein Ereignis, das nicht nur etwas mit der Politik zu tun hat, sondern auch das gesellschaftliche Klima und Leben im Land komplett verändert hat. So wurden viele Einrichtungen und Unternehmen geschlossen, nur weil sie zu kritisch gegenüber der Regierung waren. All ihnen wurde eine Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen. Aber auch Privatpersonen und Beamte sind betroffen. Jeder von ihnen durchlebt ein schweres Schicksal. Manche bleiben im Land und versuchen sich irgendwie noch am Leben zu halten. Andere flüchten nach Europa. Einer davon war Halil Dinç. Er war eigentlich Leiter des Mädchengymnasiums Samanyolu Cemal Şaşmaz in Ankara. 2018 wagte er den Versuch und überquerte die türkische Grenze im Nordosten. Mit einem Teil seiner Familie flüchtete der 45-Jährige nach Griechenland.

Bekannt wurde Dinç mit seinem selbst verfassten Gedicht „Geçtim Meriç’ten“ („Ich habe den Evros überquert“). Darin berichtet der Pädagoge über die Schwierigkeiten über sein Leben in der Türkei und auch die Flucht. Das Gedicht ist aber auch eine Art Klage gegen Menschen, die das Leid ignorieren. Es verbreitete sich schnell unter den Geflüchteten, was dazu führte, dass der Name Dinçs bekannt wurde. Doch vor etwa 14 Monaten dann der Schock: Dinç bekommt einen Herzinfarkt und kommt ums Leben. Zum Todeszeitpunkt war sein Sohn noch in der Türkei. Die Ehefrau musste sich nun alleine mit ihren zwei Töchtern in Athen durchkämpfen. Schließlich kam die Familie im Juni diesen Jahres in Belgien wieder zusammen − ohne den verstorbenen Vater.

Ehefrau veröffentlicht emotionalen Brief

Jetzt hat Nihayet, die Ehefrau des verstorbenen Dinç, einen Brief geschrieben, in der sie über die Schwierigkeiten der letzten Jahre berichtet. Auch Nihayet war Lehrerin. Bis zum Beginn der Repressalien der türkischen Regierung gegenüber der Hizmet-Bewegung haben die beiden in Bildungseinrichtungen der Bewegung gearbeitet. Die Repressalien habe die Familie sowohl mental, als auch finanziell gespürt: „Wir haben keine Löhne mehr ausgezahlt bekommen. Die Menschen hatten Angst. Sie haben ihre Kinder von unseren Einrichtungen abgemeldet“, schreibt Nihayet Dinç in dem emotionalen Brief.

In der Putschnacht habe das Sicherheitspersonal der Schule angerufen und gesagt, dass die Schule mit Steinen beworfen werde und sie nicht mehr in Sicherheit seien. „Mein Mann und die anderen Leiter sowie Lehrer konnten nicht mehr in die Schule. Sie haben eine Grundschule in Brand gesetzt. In einer [späteren] Nacht ging der stellvertretende Leiter der Samanyolu Cemal Şaşmaz-Schule [Anm. d. Red.: Schule, in der Halil Dinç gearbeitet hatte] ins Gebäude und sah überall 1 Dollar-Scheine und sogar Drogen. Er soll alles durch die Toilette gespült haben. Es waren schlimme Tage.“ Die türkische Regierung hatte absurderweise Menschen mit 1 Dollar-Scheinen als Hizmet-Anhänger beschuldigt. Die Militärs hätten solche Scheine bei sich getragen, die zuvor von Fethullah Gülen als eine Art „Mitgliedsausweis“ an seine Anhänger verteilt worden sei.

Später habe sich die Familie versteckt. Die türkische Polizei habe beide gesucht. Irgendwann habe der Familienvater woanders leben müssen − aus Sicherheitsgründen. „Jedes mal, wenn er wieder zu uns kam, sah ich, dass es ihm immer schlechter ging. Er hat 15 Kilo abgenommen. Als sei er um zehn Jahre gealtert. Aus seinen Fingern kam Blut. Wir konnten aber nicht zum Arzt.“

Halil Dinç wollte immer helfen

Er habe stets versucht, anderen Leuten zu helfen. „Ich bin zwar nicht im Gefängnis, aber ich trage jede Last meiner Freunde, die im Gefängnis sind, auf meinen Schultern“, sei sein Motto gewesen. Irgendwann sei die Situation so schwer geworden, dass die Familie es nicht mehr ertragen habe. „Wir konnten nur noch unser Auto verkaufen und unsere Heimat verlassen“, schreibt die dreifache Mutter. „Klar, ich hatte Angst. Je mehr ich Menschen sah, die im Evros ertranken, umso mehr begann ich zu zweifeln und den Mut zu verlieren. Aber mein Mann hat mir immer Mut gemacht. Er war immer so.“Allah ist mit uns“, sagte er jedes mal, wenn ich etwas in Hoffnungslosigkeit verfiel. Er war sehr gläubig.“

Dann habe man die Flucht geschafft und sei in Griechenland angekommen. Hier seien sie von den griechischen Beamten sehr gut behandelt worden. In Untersuchungshaft habe man andere Familien aus der Türkei kennengelernt. Halil Dinç sei durch sein graues Haar als Respektperson angesehen worden und habe versucht, allen Menschen dort Hoffnung zu machen, schreibt seine Ehefrau.

Tot nach einem glücklichen Morgen

Dann habe die Familie einige Tage in Athen verbracht. Dort habe man in einer Wohngemeinschaft mit einer anderen Familie gelebt. Doch am 16. August 2018 dann der Schock für die Familie. Nach einem schönen Morgen, an dem Halil Dinç ein leckeres Frühstück vorbereitet habe, seien er und seine Frau zum örtlichen Markt gegangen und hätten eingekauft. „Als wir zurück nach Hause kamen, ging es unserer Tochter nicht so gut. Mein Mann wollte sie deshalb auf einen Döner einladen. Er wollte sich duschen und frisch machen. Dabei rief er nach mir. Als ich ins Badezimmer ging, um nachzusehen, habe ich gesehen, dass er auf dem Boden lag. Er war bewusstlos.“ Mehr noch, er sollte nicht mehr wiedererwachen.

Als sei das nicht genug, hätte man auch Schwierigkeiten bei der Beerdigung gehabt. Keiner in seiner Heimatstadt habe ihn bestatten wollen, weil man ihn als einen führenden Anhänger der Hizmet-Bewegung gesehen habe. So habe ein anderer Anhänger der Hizmet-Bewegung das Totengebet übernommen.