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Gesellschaft

Cybermobbing und Jugendgewalt: Hassgruppen sind keine Lösung

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Ein Video aus Tübingen verbreitete sich vergangene Woche wie ein Lauffeuer. Der Inhalt war abscheulich, wirft aber erneut die Frage auf, wie man mit Mobbing und Gewalt an Schulen umgehen sollte. (Foto: dpa)

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Lehrer haben an Schulen häufig mit Gewalt und Mobbing zu kämpfen.
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GASTBEITRAG In den letzten Tagen kursiert ein Video in den sozialen Netzwerken, dass über 200.000 Menschen gesehen, geteilt und darüber diskutiert haben. Ein 13-jähriges Mädchen aus Tübingen wird auf brutalste Art und Weise von zwei anderen Mädchen verbal und physisch extrem attackiert.

Drum herum stehen viele weitere Jugendliche; sie filmen, applaudieren, beleidigen, aber helfen nicht und zeigen vor allem kein Mitleid.

Dieses Video löst in ganz Deutschland Gänsehaut und Trauer aus. Die beiden Täterinnen sind der Polizei nicht unbekannt und werden derzeit vernommen. Durch die sozialen Netzwerke entstehen viele Probleme, auf der anderen Seite konnte man die Täter so schnell finden, da sie schlau (!) genug waren, ihre Untat öffentlich zu machen. Dem angegriffenem Mädchen steht nun eine sehr schwere Zeit bevor.

Aber auch die Täter selbst werden diesen Vorfall so schnell nicht vergessen. Im Internet nehmen die Diskussionen über die einzelnen Täter kein Ende. Fotos, Handynummern, Schuladressen, Wohnorte etc. werden präsentiert und ausgetauscht und einzelne „Hassgruppen“ gebildet.

Doch was ist mit den Jugendlichen selbst, die diese unmenschliche Tat verübt haben? Was geht in ihnen vor? Wieso üben sie eine solche massive und sadistische Handlung aus? Nicht ein Einziger hatte den Mut dazu, einzugreifen.

Mobbing und Gewalt beginnen im Kindesalter

Mobbing und Gewalt beginnt in der heutigen Gesellschaft schon im Kindergarten. In einem meiner Seminare zum Thema „Was ist Mobbing?“ berichteten ErzieherInnen über ihre Erfahrungen aus dem Kita-Alltag. Kinder, die sich wegen ihrer Hautfarbe schlugen oder andere, die wegen ihrer Klamotten bedroht und verprügelt wurden. Kleinkinder zwischen 3-6 Jahren wissen also, was es heißt, eine andere Hautfarbe zu haben oder Marken zu präsentieren. Und was heißt das eigentlich, anders zu sein oder sich anders zu kleiden bzw. „normal“ zu kleiden? Welche Rolle spielen die Eltern in diesen frühen Lebensjahren? Was wird mit den Kindern zuhause gemeinsam erarbeitet bzw. reflektiert? Warum werden Fragen der Kinder nicht ernst genommen? Die Praxis zeigt, dass Eltern sich erst einmischen, sobald sie „müssen“.

Ich möchte hier nicht das Mitwirken der Eltern in Frage stellen, sondern lediglich aufmerksam darauf machen, dass sie eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn es um genau diese Themen geht. In dem Projekt „Fit im Konflikt – Was ist Gewalt? Was ist Selbstbehauptung?“, welches am Clara-Schumann-Gymnasium in Dülken in Kooperation mit der EWTO WingtsunAkademie Neuss und Viersen mit vier Gewaltpräventionstrainern durchgezogen wurde, war diese Thematik bei den Jugendlichen sehr stark vertreten. Die Jugendlichen fragten mich, ob es normal sei, dass Lehrer immer die „Außenseiter“ zu sehr in Schutz nehmen und sie anders behandeln.

„Wie sollen wir jemanden nicht als Opfer ansehen, wenn es die Lehrer selbst tun, die uns ja eigentlich mit Wort und Tat zur Seite stehen sollten?“, lautete eine der Fragen.

Eltern und Lehrer greifen oft erst ein, wenn sie es „müssen“

Ausgrenzung entsteht eben nicht nur seitens der Schüler, die nun mehrfach aus der Perspektive der Jugendlichen beschrieben und bestätigt wurde. Gerade Lehrer, die als zweitwichtigste Komponente im Leben der Heranwachsenden eine sehr entscheidende Rolle spielen, prägen die Entwicklung und den Alltag der Kinder. Sie dürfen die Augen nicht vor den „kleinen“ Geschehnissen im Unterricht verschließen, auch wenn der Lehrplan engt. Die Psyche und die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen lässt sich eben nicht „nur“ durch Mathe und Deutsch positiv fördern! Die sozialen Netzwerke sind Orte, an denen Mobbing und Gewalt sehr stark präsent sind.

Cybermobbing ist kein eigener Straftatbestand. Angst und Schuldgefühle verhindern, dass die Opfer sich offenbaren. Statistiken der letzten Jahre zeigen, dass Gewaltszenerien und Mobbing unter Kindern und Jugendlichen sehr stark ansteigen.

Eltern, Lehrer, Fachkräfte und Mitwirkende im Leben der Kinder und Jugendlichen müssen den direkten Weg in eine aktive Kommunikation wagen. Keine Ignoranz, kein Mitleid für die „Außenseiter“, die diesen Status erhalten, weil viele Lehrer dieses Gefühl bestärken.

Die Schuld an diesen Gewaltszenarien tragen nicht nur die Heranwachsenden alleine, die Gesellschaft muss reagieren! In den letzten Jahren haben die soziale Medien wie Facebook und Twitter schnell und in allen Altersgruppen der Gesellschaft Fuß gefasst. Wie steht es aber mit der Kompetenz, diese Medien zu nutzen? Wo lernen Heranwachsende, was es heißt, ein mobiles Endgerät zu besitzen, mit dem man viel Blödsinn anstellen kann? Nur auf negative Vorfälle zu reagieren und härtere Strafen einzufordern, ist nicht die Lösung.

„Die Kinder werden immer schlimmer und schlimmer“ heißt es doch so oft, Kinder und Jugendliche hören das tagein tagaus. Dieser Satz macht seit Jahrzehnten eine Reise durch die Gesellschaft und selbst die Kinder sind ganz „stolz“ drauf, wenn man sie so betitelt. Doch langsam ist es doch an der Zeit, neue Möglichkeiten bzw. eine neue Mundpropaganda zu schaffen und zu verbreiten, um den Kindern und Jugendlichen „neue“ Impulse zu geben. „Gewalt endet, wo Liebe beginnt“, wäre das nicht mal ein toller Ansatz, um Gedanken und Handlungen zu reflektieren, auf den die SchülerInnen ganz stolz sein könnten?

Umut Ali Öksüz arbeitet als Lehrer und Sozialtrainer in NRW und ist Dozent und Buchautor.