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Heimatgefühl im Vielvölkerstaat

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Tito hielt Jugoslawien als Diktator zusammen. Doch was heißt es, in einem Vielvölkerstaat zu leben? Nedim Makarevic lebte 17 Jahre in Jugoslawien und berichtet über seine Erfahrungen. (Foto: cihan)

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Heimatgefühl im Vielvölkerstaat
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Herr Makarevic, Jugoslawien war einer der letzten Vielvölkerstaaten Europas. Wie war das Heimatgefühl dort? Haben Sie sich in Jugoslawien zu Hause gefühlt?

Wissen Sie, solange Tito lebte, gelang es ihm, alle Völker, d.h. Bosnier, Kroaten, Serben, Slowenen, Mazedonier und Albaner, unter dem Begriff ,Jugoslawen‘ zu einen, die Religion war nicht wichtig. Der einzige Nationalismus, der erlaubt war, war der jugoslawische, die Betonung des bosnischen, kroatischen, serbischen usw. war dagegen strafbar. Man konnte deswegen ins Gefängnis kommen. Tito hat das Gesetz dazu nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen, und es war bis zu seinem Tod 1980 gültig. Mit seinem Tod begann die Phase des separatistischen Nationalismus, in diesem Falle des serbischen, der sich gegen Albaner, Slowenen, Kroaten und am schlimmsten gegen die Bosnier wandte.

Aber zur Frage, ob ich mich in Jugoslawien heimisch gefühlt habe: Die Antwort ist ja, ich habe mich dort heimisch gefühlt, solange Tito lebte. Danach wehte ein neuer Wind, ich kann mich sehr gut daran erinnern. In meiner Gymnasialzeit waren schon allenthalben Forderungen nach einem ,Großserbien‘ zu hören.

Sie sind mit 17 Jahren nach Deutschland gekommen. Die Gründung des bosnischen Staates haben Sie nicht miterlebt. Sehen Sie Bosnien trotzdem als Ihre Heimat?

Ja, natürlich, ich habe 17 Jahre meines Lebens dort verbracht, meine Familie ist immer noch dort. Ich pflege eine enge Beziehung zu Bosnien, betätige mich in jeder Hinsicht, sowohl humanistisch als auch wirtschaftlich und politisch, um die Lage dort zu verbessern. Das, was dort passiert ist, ist keine Kleinigkeit, sondern ein Völkermord, der vor allem von Serben und Kroaten an Bosniaken vollzogen wurde, und natürlich fühlt man sich da verpflichtet zu helfen, zum Beispiel in einem patriotischen Bund. Sehen Sie, mein Vater war damals in einem serbischen Lager, man hat ihn gefangen genommen, weil er politisch tätig war, viele meiner Cousins sind im Kampf gegen Serben gefallen. Man ist dazu verpflichtet, eine bessere Zukunft für Bosnien zu gestalten.

Wieso ist es in Jugoslawien zu einem Krieg gekommen? War es nicht möglich, sich friedlich zu trennen?

Dazu muss man den größeren Kontext betrachten. Ich glaube, die Großmächte haben auch mitgespielt, und zwar eine sehr wichtige destruktive Rolle. Wie gesagt, unter Tito hätte das so nicht geschehen können. Das lag natürlich an der bereits erwähnten Gesetzgebung, aber auch an der integrativen Persönlichkeit Titos. Er war ein raffinierter Politiker. Wenn man es genau nimmt, war er ein Diktator. Aber nicht im klassischen Sinne. Er musste die Leute nicht im eigenen Land einsperren, wie die anderen Staatsführer, die den Kommunismusversuch gewagt haben. Das Volk hat ihn geliebt.

Als es dann nach seinem Tod zum Krieg kam, waren schon gewisse Tatsachen gegeben: So waren 90 Prozent der Generäle der nationalen Armee Serben. Auch die Rekruten, die in den 1960ern und 1970ern in die Volksarmee aufgenommen worden waren, waren zu 90 Prozent Serben. Damit konnte Serbien die jugoslawische Volksarmee, immerhin die viertgrößte Armee Europas, einfach für sich übernehmen, und mit diesem Machtinstrument in den Händen war eine friedliche Trennung für sie unattraktiv.

Hat der Krieg eine Rolle bei der Entstehung der Heimatgefühle der Bosnier gespielt?

Auf jeden Fall. Man hat die bosnischen Zivilisten getötet, man hat systematisch die Frauen vergewaltigt. Man hat die Kinder von klein bis groß umgebracht oder in Konzentrationslagern zur Schwerstarbeit gezwungen. Deutlicher kann man einer Gruppe nicht klar machen, dass sie auf sich selbst gestellt ist. Auf brutale Art wurde hier etwas geweckt, das zu Titos Zeiten – immerhin ein halbes Jahrhundert lang – geschlummert hatte. Es kam zu einer Rückbesinnung auf die religiösen Wurzeln der Bosnier.

Wenn Sie von diesen religiösen Wurzeln sprechen, wird man daran erinnert, dass Bosnien, obzwar es geographisch zu Europa gehört, doch auch orientalische Kulturelemente besitzt. Wie wirkt es sich auf Ihr Heimatgefühl aus, wenn Sie beispielsweise in der Türkei oder in Deutschland sind? Fühlen Sie sich Europa oder dem Orient zugehörig?

Da würde ich erst einmal unterscheiden zwischen der Türkei und den anderen orientalischen Ländern. Immerhin war Bosnien 500 Jahre lang Teil des Osmanischen Reiches, und wir fühlen uns der Türkei daher sehr verbunden. Ich empfinde die Türkei als zweite Heimat, das geht mir sonst nirgends so.

Allerdings sind wir geographisch und von unseren Ursprüngen her ein europäisches Volk. Bevor wir zum Islam konvertiert sind, gehörten wir dem Glauben der Bogomilen an. Dann kam wie gesagt die Zeit des Osmanischen Reichs, später Österreich-Ungarn, dann Tito und jetzt…

Jetzt ist die Frage, in welche Richtung sich Bosnien positioniert. Nach Europa? Nach Asien? Oder als Brücke zwischen den beiden?

Offiziell will die Mehrheit, dass wir als ein europäisches Land anerkannt werden. Wir sind auch ein europäisches Land, allein geographisch gesehen. Nehmen wir zum Vergleich Griechenland, Griechenland befindet sich 100 Kilometer weiter in Richtung Asien und man stellt nie die Frage, ob die Griechen Europäer sind oder nicht. Bosnien ist von Frankfurt nicht einmal 1000 Kilometer entfernt. Es ist mittendrin in Europa.

Politisch stellt sich die Frage: EU oder nicht EU? Offensichtlich gibt es politische Kreise, die starken Einfluss ausüben und eine EU-Zugehörigkeit nicht vornehmlich geographisch, sondern religiös begründen. Für uns Bosniaken ist die Religion kein Hinderungsgrund dafür, uns Europa und der Europäischen Union zugehörig zu fühlen. Wir sind ein Teil Europas und wollen als solcher anerkannt werden.

Wenn es um Gesinnung als Eignung für die Zugehörigkeit zur Europäischen Union geht, und Demokratie und Menschenrechte hier als Maßstab gelten sollen, dann müssen sich eher die EU und die meisten ihrer Mitgliedsstaaten fragen lassen, wie es um ihre demokratische und menschenrechtliche Gesinnung bestellt war, als sie durch ihre Politik und ihren Handel den Völkermord an den Bosniaken mehr als nur geduldet haben.

Und auch nach dem Krieg geht diese Politik weiter. Wohin fließen die EU-Gelder? Welche Länder werden in ihrer Entwicklung blockiert? Serbien steht wieder auf der Gewinnerseite und Bosnien wird stiefmütterlich behandelt. Das ist die Politik einer Union, die sich auf Demokratie und Menschenrechte beruft.

Europa ist also ein schwieriger Bezugspunkt. Doch wie sieht es im Inneren des Landes aus? Ist Bosnien den dort lebenden Menschen – serbischer, kroatischer und bosnischer Herkunft – zur Heimat geworden?

Nein, denn die Täter sind noch nicht bestraft. In Bosnien haben sie immer noch wichtige Ämter inne und keiner will gegen sie vorgehen. Dazu kommt, dass sich zum Beispiel die bosnischen Serben nicht als Bosnier, sondern als Serben fühlen – und das ist nicht nur ein theoretisches Problem: Wir haben, was die Präsidentschaft des Landes anbelangt, ein Rotationssystem. Präsident wird in Folge immer ein Bosnier, dann ein Kroate und dann ein Serbe. Solange sich aber der serbische Präsident als Serbe und nicht als Bosnier fühlt – wie kann er da bosnischer Präsident sein? Wie soll sich der bosnische Staat entwickeln, wenn er von Menschen geführt wird, die sich nicht mit ihm identifizieren? Auch hier unterstützt die EU ein fragwürdiges System. Doch dieses Problem wird nicht beim Namen genannt.

Nedim Makarevic, Geschäftsführer der Beratungsfirma AirNet, ist Softwareentwickler und lebt in Frankfurt. Dieses Interview erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft“.