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Kolumnen

Ist der Fußball noch die schönste Nebensache der Welt?

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Als 1963 die erste Bundesligasaison angepfiffen wurde, verdienten die Spieler im Schnitt 1000 DM, der Fußball war auf die Tage Mittwoch und Samstag beschränkt. Heute kann man sich 24/7 in den Fußballsport als Ort der Weltflucht verlieren. (Foto: dpa)

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Der Fall Hoeneß hat eine strafrechtliche Seite, die seit dem Verzicht der Staatsanwaltschaft auf eine Revision entschieden ist. Der Münchner Fußball-Manager wird sich demnächst mit leichtem Gepäck in einem Gefängnis des Freistaates Bayern zum Haftantritt melden müssen.

Der Fall Hoeneß bietet aber auch weitere Facetten, und eine davon lautet, dass Fußball in diesem Lande zu wichtig geworden ist. Für viele Menschen ist er nicht mehr die schönste Nebensache der Welt. Er ist zur Hauptsache geworden. Die Politik hat dies längst erkannt. Die Bundeskanzlerin ließ es sich nicht nehmen, die Entscheidung des Vereinspräsidenten von Bayern München, in den Knast zu gehen, zu kommentieren. Der ehemalige bayerische Ministerpräsident Stoiber macht sich bereits Gedanken, wie Hoeneß so schnell wie möglich in den drittreichsten Club Europas wieder eingegliedert werden kann. Das alles geht ein wenig zu schnell und vor allem: Es ist peinlich.

Als ich aufs Gymnasium ging, hatte die Bundesliga gerade ihren Spielbetrieb aufgenommen. Die Spieler bekamen offiziell rund 1000 DM im Monat. Es gab etwa 10 Länderspiele im Jahr, und als feststand, dass Eintracht Frankfurt im Finale des Europapokals gegen Real Madrid spielen würde, freuten wir uns Wochen im Voraus auf das Ereignis. Das Spiel ging für die deutsche Mannschaft deutlich verloren, mit 3:7. Heute habe ich das Gefühl, dass man mittlerweile 10x mehr Fußballspiele im Jahr sehen kann. Wer bereit ist, zusätzlich Geld für einen Sportkanal auszugeben, kommt auf wesentlich höhere Werte. Mit anderen Worten: Man kann den Feierabend ganz auf den Fußball ausrichten, das Wochenende natürlich auch. Und am Montag geht das Spielchen weiter.

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Ersatzreligion in einer ereignislosen Welt

Von daher überrascht es nicht, dass Uli Hoeneß, der Aufsichtsrat des Vereins und erhebliche Teile der Anhängerschaft von Bayern München so lange gebraucht haben, den Ernst der Lage einzusehen. Für viele war das, was Hoeneß gemacht hatte, ein Bagatelldelikt. Dass man dies so sah, hat mit der Verselbstständigung des Themas Fußball eine Menge zu tun. Es wird als eine andere Welt angesehen, in der eigene Gesetze gelten. Auch Hoeneß brauchte überraschend lange, um zu begreifen, dass er bald vor einem Gericht stehen würde, dass es ernst meinte.

Fußball ist zu einer Ersatzreligion geworden, das Stadion zu einem Ort, an dem man Emotionen in einer ereignisarmen oder ereignislosen Welt ausleben kann. Das Gemeinschaftserlebnis kommt hinzu, auf der Anfahrt zum Spielort, auf der Tribüne und bei der Abreise. Die Folgen dieses Verhaltens lassen sich an anderer Stelle besichtigen, in der Verödung der deutschen Stadtzentren nach 17 Uhr, in der Mitteilung an den Gastgeber, dass man zum Abendessen nicht kommen könne, weil Bayern München bei Arsenal London spiele. Parlamentssitzungen werden abgekürzt oder fallen ganz aus, weil es die Abgeordneten an die Bildschirme drängt. Stimmen die Prioritäten in einem großen Land, wenn die Tagesschau mit dem Verfahren gegen Uli Hoeneß aufmacht, und die bedrohliche Krise auf der Krim an die zweite Stelle rückt, wenn der Bürgerkrieg in Syrien mit seiner unfassbaren Zahl an Toten kaum noch Chancen hat, in die Hauptnachrichtensendung zu gelangen?

Die Kanzlerin in der Mannschaftskabine

Ein wohlhabendes Land wie Deutschland muss bei aller Freude an den schönen Seiten des Lebens auch Ernsthaftigkeit, ein Gespür für Wichtiges und Unwichtiges ausstrahlen. Dieses scheint der Freizeit- und Fußball-Gesellschaft zunehmend abhanden zu kommen. Als die Bundesliga begann, sprach man noch von Vereinsvorsitzenden und von einem Mitglied der Weltmeistermannschaft. Heute sind alle Präsidenten. Jeder einzelne Spieler wird von der Sportpresse als „Weltmeister“ tituliert, obwohl es sich um ein Mannschaftsspiel handelt. Und die Kanzlerin tut etwas, was in den Zeiten von Helmut Schmidt undenkbar gewesen wäre: Sie geht in die Kabine der Spieler. Die Sprache und natürlich auch die Bilder sind Zustandsbeschreibungen einer Gesellschaft.

Aber es gibt Wichtigeres als ein Fußballspiel. Bayern München und sein zurückgetretener Vereinspräsident können den Zusammenhalt, den eine Gesellschaft braucht, nicht organisieren. Eine Gesellschaft braucht Freiräume, Muße für den Einzelnen und Gelegenheiten, dass sich Menschen für die Gemeinschaft engagieren.