Gesellschaft
„Nur gemeinsam sind wir glaubwürdig“
Kadir Sancı ist Teil eines weltweit einmaligen Projekts in Berlin. Er hat in den letzten Jahren gelernt, wie wichtig die Zusammenarbeit mit anders glaubenden Menschen sein kann.
Der Religionswissenschaftler Kadir Sancı macht nunmehr seit fünf Jahren eine ganz praktische Erfahrung, was die Zusammenarbeit mit Christen und Juden angeht. Denn Sancı ist Imam des House of One.
Aufgewachsen ist Sancı in Bayern, wo er auch sein Abitur gemacht hat. Auch wenn er seit fünf Jahren in Berlin lebt und die Stadt in sein Herz geschlossen hat, denkt er zuerst an München, wenn von Heimat die Rede ist.
Theologie studierte er in Frankfurt und Istanbul. In Frankfurt lernte er den türkischen Orientalisten Prof. Dr. Fuat Sezgin kennen. Sezgin, mittlerweile über 90 Jahre alt, hat richtungsweisende Forschungsarbeit im Bereich Geschichte der Naturwissenschaften zur Zeiten arabisch-islamischer Hochkultur geleistet: „Ich durfte viel von ihm und seiner Arbeit für meine Magisterarbeit lernen. Außerdem durfte ich mich an einem Dokumentarfilm über Sezgin beteiligen. Der enge Kontakt dadurch lieferte mir wichtige Lebenserfahrungen“, sagt Sancı. Ein anderes prägendes Erlebnis aus der Zeit war der Besuch einer Kirche im Rahmen des Studiums in Darmstadt-Kranichstein: Es waren genau genommen zwei Kirchen – eine evangelisch, die andere katholisch – die ein gemeinsames Dach haben. „Diese Kirchen inspirierten mich während meines Studiums, mich mit der Grundidee des House of One in früher Zeit zu befassen.“
Der interreligiöse Dialog war für ihn also schon immer eine Herzenssache, auch deshalb, weil er in sehr frühen Jahren mit den Lehren des muslimischen Predigers Fethullah Gülen in Berührung kam: „Da passte es sehr gut, dass ich neben meiner Tätigkeit als Dozent an der Universität Potsdam auch in dem Projekt House of One mitwirken durfte, als ich nach Berlin umzog.“
Das House of One ist ein gemeinsames Mega-Projekt der drei abrahamitischen Religionen in Berlin. Mitten in der bundesdeutschen Hauptstadt ist ein 43,5 Millionen Euro teures Haus im Entstehen, in dem Juden, Christen und Muslime zwar getrennt beten, jedoch auch Raum für Diskussionen- und Informationsveranstaltungen schaffen wollen, die für alle offen sein sollen. Neben Moschee, Kirche und Synagoge ist hierfür ein spezieller Raum vorgesehen.
Obwohl das Gebäude noch nicht steht – mit dem Bau soll 2019 begonnen werden – haben Imam Kadir Sancı von Forum Dialog, Pfarrer Gregor Hohberg von der Kirchengemeinde St. Marien/St. Petri und Rabbiner Andreas Nachama vom Abraham Geiger College viele gemeinsame Veranstaltungen auf die Beine gestellt. Eine von ihnen war der gemeinsame Gottesdienst am 11. September 2016, der vom Deutschlandradio live übertragen wurde: „Natürlich ging es in allen drei Predigten um das Gewaltpotential der Religionen und um die Frage nach den Gründen, warum Religionen in der Geschichte und Gegenwart für Gewalt und Terror herhalten müssen“, erklärt Sancı.
Alle drei Träger des weltweit einmaligen Projekts sind sich aber darin einig, dass Religionen auch ein hohes Maß an Friedenspotential besitzen: „Es lohnt sich, diese Seite zu stärken und einzubringen – für ein friedliches Miteinander aller Menschen“, wird Pfarrer Gregor Hohberg auf der Homepage von House of One zitiert.
Was Sancı aber neben dem kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte, Gemeinschaft und Theologie an dem Projekt fasziniert, ist die gemeinsame Erfahrung, das Zusammenleben- und wachsen. Er nennt es Dialog 2.0: „Wir sprechen nicht nur über theologische Themen und gehen dann auseinander, sondern müssen uns mit ganz praktischen Fragen wie der Gründung einer Stiftung oder dem Sammeln von Spendengeldern beschäftigen und gemeinsam Antworten auf alltägliche Herausforderungen finden.“
Spenden sind enorm wichtig für das Projekt. Ohne sie ist das Projekt, an dem Mitglieder der drei monotheistischen Religionen seit fast 10 Jahren arbeiten, kaum zu realisieren. Bis jetzt haben über 3000 Menschen aus der ganzen Welt insgesamt über eine Million Euro für das Projekt gespendet. Nicht jedes Geld wird dabei angenommen: „Wenn zum Beispiel jemand einen Gewinn aus Glücksspielen erwirtschaftet und uns das Geld spenden wollen sollte, können wir das nicht annehmen, weil Glücksspiele und der Gewinn aus ihnen im Islam nicht zulässig sind.“
Wie wichtig die Friedensbotschaft auch für Christen und Juden ist, habe ich in diesen Jahren gelernt. Zudem bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir erst dann glaubwürdig sind, wenn wir diese für uns alle so wichtige Botschaft gemeinsam in die Welt tragen.
Bei der Verkündung der Fördersumme des Bundes in Höhe von 2,2 Millionen Euro war auch die Ministerin Barbara Hendricks persönlich anwesend. Das House of One wird aus dem Programm „Nationale Projekte des Städtebaus“ gefördert. „Mit diesem Programm unterstützen wir ‚Leuchttürme‘ der Baukultur von nationaler Bedeutung und internationaler Ausstrahlung“, so Hendricks. Weitere 1,1 Millionen kommen aus Mitteln des Landes Berlin. 100.000 Euro beträgt der Eigenanteil des House of One.
Nach fünf Jahren Austausch und Diskussion ist sich Sancı sicher: „Wie wichtig die Friedensbotschaft auch für Christen und Juden ist, habe ich in diesen Jahren gelernt. Zudem bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass wir erst dann glaubwürdig sind, wenn wir diese für uns alle so wichtige Botschaft gemeinsam in die Welt tragen. Insofern ist Religion zwar auf der einen Seite eine private Angelegenheit – jeder soll an das glauben, an das er glauben möchte – aber gleichzeitig etwas sehr öffentliches.“
Auf diese „Öffentliche Bedeutung“ der Religionen und auf ihren gemeinsamen Auftrag für den Frieden weisen auch die Spitzen der beiden großen Kirchen in Deutschland in einem gemeinsamen Doppelinterview mit den Nachrichtenagenturen kna und epd hin. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, bringt darin den Wunsch zum Ausdruck, dass alle Religionen „Kräfte des Friedens und der Versöhnung in der Gesellschaft“ werden mögen. Es sei in der aktuellen Situation „entsetzlich, den Islam insgesamt und alle Muslime als Bedrohung darzustellen“, ergänzte der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx. „Damit wird Stimmung gemacht!“
Aus der Sicht von Marx hat man sich in Deutschland über Integration zu lange zu wenig Gedanken gemacht, „auch die Kirche nicht. Jetzt gehören die Muslime in unser Land, die meisten leben hier über
Jahrzehnte. Sollten wir jetzt sagen: Ihr gehört nicht dazu?“ Daher könne man sich nur wünschen, „dass sie auch in ihrer religiösen Tradition in Deutschland ihre Heimat finden“.
Für Imam Sancı stellt sich die Frage des Dazugehörens erst gar nicht. Als jemand, der in Deutschland geboren ist, sieht er sich von der ganzen Integrationsdebatte auch nicht angesprochen. Er sieht sich als einen selbstverständlichen Teil der deutschen Gesellschaft und bastelt gerne an der Gegenwart und Zukunft des Landes mit.
Eher spricht er von einer Minderheitenlage der Muslime in Deutschland: “Das ist für uns vielleicht eine neue Situation. Hier können wir aber einiges von der jüdischen Glaubensgemeinschaft lernen, die über Jahrhunderte hinweg Erfahrungen als Minderheit besitzen. Als Angehöriger einer Minderheit hat man einen eigenen Blick auf fast alles. Man ist automatisch ein Querdenker. Und als solcher kann man der Gesellschaft enorm viel Neues geben.”
Geprägt von Ideen der Hizmet-Bewegung, die in und um den Prediger Fethullah Gülen entstanden ist, kann er seinen Glauben und seine Vorstellung vom friedlichen Zusammenleben in Berlin verwirklichen glaubt Sancı: “Ich fühle mich in Berlin auch deshalb sehr wohl, weil ich mich und meine Ideen von einem friedlichen Zusammenleben in dem Projekt House of One verwirklichen kann.”