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Gesellschaft

„Hrant Dink wurde gezielt zum Abschuss freigegeben“

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Die Verlautbarung der Generalstaatsanwaltschaft zum Mord am bekannten armenischen Journalisten Hrant Dink heute vor genau sechs Jahren hat interessante Aspekte ans Tageslicht befördert. (Foto: cihan)

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„Hrant Dink wurde gezielt zum Abschuss freigegeben“
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Am Auffälligsten war dabei, dass die oberste Anklagebehörde ganz deutlich der Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts, wonach nicht nachzuweisen wäre, dass eine Organisation hinter der Ermordung des Intellektuellen stehe, entgegentrat. Auch die Medien hatten im Vorfeld der Verurteilung des Hauptbeschuldigten im Januar 2012, im Zuge derer das zweite Istanbuler Strafgericht für schwere Straftaten alle anderen Angeklagten freigesprochen und die Existenz einer dahinter stehenden Organisation verneint hatte, in erster Linie die Frage der Hintermänner thematisiert.

Die Version, von der das Gericht offenbar ausging, wonach „gelangweilte Herumtreiber“ in einem Café mehr oder minder durch Zufall auf die Idee gekommen wären, doch einen Mord zu begehen, deckt sich so gar nicht mit anderweitigen Erkenntnissen und Akteninhalten, die nach Auffassung fast aller Beobachter einen klaren Rückschluss auf das Motiv hinter der Bluttat zuließen.

Hrant Dink wurde gezielt zum Abschuss freigegeben

Der ehemalige Chef des Polizeigeheimdienstes, Hanefi Avcı, der im Verdacht steht, dem Ergenekon-Netzwerk anzugehören, soll einst mit Blick auf Dink geäußert haben „Wenn Ihr die Atmosphäre etwas erhitzt, wird schon jemand die Ärmel hochkrempeln“ und auf diese Weise den unbequemen Journalisten zum Abschuss freigegeben haben.

Insbesondere solche Aussagen lassen es nach Auffassung der Generalstaatsanwalt als außergewöhnlich unwahrscheinlich erscheinen, darüber hinaus noch Möglichkeiten wie einen „spontanen Entschluss zum Verbrechen“ oder „spontan aus Ärger entstandene Zusammenrottung“ ins Auge zu fassen.
„Das war keine gewöhnliche Mordaktion, sondern Teil einer Reihe von in den Akten dokumentierten Aktionen, die das Ziel hatten, die Einheit und Integrität unseres Landes zu stören; die Autorität zu schwächen; die öffentliche Ordnung im Land zu zerstören und stattdessen Chaos, Verwirrung und eine Atmosphäre des Misstrauens zu schaffen; einen Boden für Unruhen vorzubereiten; unser Land auf internationaler Ebene in Schwierigkeiten zu bringen – das ist offensichtlich“, so der Generalstaatsanwalt.

Seiner Meinung nach war der Mord an Dink aus der Sicht der dahinter stehenden Organisation – welche die staatliche und öffentliche Ordnung ins Visier genommen hatte – kein Selbstzweck, sondern ein Baustein eines noch viel weitergehenden Tatplans.

Demnach kann keine Rede davon sein, dass die Organisation isoliert für den Mord an Dink gegründet worden wäre. Wir wären vielmehr mit einer Struktur konfrontiert, welche die Beseitigung des Staates und der öffentlichen Ordnung ins Auge gefasst habe.

Systematische und geplante Aktivität hinter dem Mord

Während der Generalstaatsanwalt die Umstände des Mordes schildert, wählt er die Begriffe mit Sorgfalt: „Bereits der Umstand, dass Hrant Dink allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer anderen Religion und Nationalität ermordet wurde, legt nahe, dass der Tat die systematische, geplante und organisierte Aktivität einer Organisation zugrunde liegt.“

Dass der Mord mit einem ideologischen Ziel begangen wurde, wird ebenfalls betont. Die juristischen Definitionsmerkmale einer Organisation im Rechtssinn seien jedenfalls im ausreichenden Maße verwirklicht. Den Einwendungen, die gegen die These eines Mordes aus den von der Staatsanwaltschaft genannten Beweggründen sprechen würden, hält die Generalstaatsanwaltschaft entgegen: „Das Verbrechen der Gefährdung der staatlichen Einheit ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt und somit wurde der Tatbestand mit der letzten Aktivität, welche mit dem darauf gerichteten Tatvorsatz begangen wurde, verwirklicht.“

Verharmlosung und Leugnung im nationalistischen Lager

Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die erstinstanzliche Entscheidung, die durch das Erstgericht in keiner Weise überzeugend begründet worden ist und von der die überwiegende Mehrheit der Gesellschaft nicht überzeugt ist, im zuständigen Strafsenat des Obersten Gerichts noch abgeändert werden kann. Ich möchte aber die Aufmerksamkeit noch auf einen noch anderen Punkt richten: Heute ist der sechste Jahrestag des Mordes. Es werden Treffen organisiert, um die Erinnerung an Dink lebendig zu halten und das Vergessen seiner Ermordung zu verhindern. Auf Versammlungen und im Rampenlicht der Kameras treten – wie Dink-Nachfolger Etyen Mahçupyan sie bezeichnet – ‚die Nutznießer des Hrant-Mordes‘ auf. An der vordersten Front stehen dabei diejenigen, die das Buch von Hanefi Avcı gratis verteilen und seine Aussagen ohne jegliche Kritik ausgiebig verbreiten.

Dieser wiederum hat seine eigene Version der Geschichte: „Niemand kann mich und einen vernünftigen Menschen – in Anbetracht der vorliegenden Beweise und der äußeren Form der Ereignisse – davon überzeugen, dass außer den heute bekannten Tätern noch Ergenekon oder ähnliche Gruppen den bewaffneten Angriff auf den Staatsrat, die Ermordung von Dink, das Blutbad im Zirve-Verlag in Malatya und ähnliche Taten begangen haben sollen. Dahingehende Aussagen wurden erzwungen. Auch wenn schriftliche Dokumente, Akten und einige Beziehungen – welche als organisatorische Tätigkeit gelten könnten – über die Existenz der Ergenekon-Organisation vorhanden sein sollen, gibt es in Bezug auf ihre angeblichen Handlungen gar keine ernsthaften Beweise.“