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Kultur/Religion

Hüseyin Edemir: An der Ungerechtigkeit gewachsen

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Schriftsteller Hüseyin Edemir
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Hüseyin Edemir gehört zu jenen Newcomern der türkischen Literaturwelt, deren Erfolg sich – so bitter es klingt – aus der misslungenen Politik in der Türkei speist, die ihn ins Gefängnis brachte.

Sein 2015 erschienenes erstes Buch „C-84“ beschreibt seine Zeit in Haft von 2010 bis 2012. Beschuldigt, als DHKP-C-Mitglied an terroristischen Plänen mitgewirkt zu haben, musste er während seiner Inhaftierung in Einzelhaft drei Mal vor die Richter – und danach jedes mal wieder zurück in die Zelle C-84.

Wie es dazu kommen würde, hatte er nicht geahnt, als er im Frühjahr 2010 in Istanbul gemeinsam mit seinem Bruder nach einer geeigneten Krawatte für die bevorstehende Verlobung mit seiner Geliebten suchte. Nachdem die Polizei ihn bei einer Routinekontrolle nach dem Ausweis fragte, den er bedenkenlos vorzeigte, fand er sich einige Stunden später in Untersuchungshaft wieder. Das einzige, was er mit sich führen durfte, waren zwei Müllsäcke mit dem Notwendigsten, vor aalem Kleidung und persönliche Gegenstände. Keine Zeit für Anrufe, selbst seine Verlobte erfuhr erst von der Festnahme, nachdem er bereits abgeführt wurde. Damals konnte er nicht ahnen, dass seine Haft anderthalb Jahre dauern würde.

Edemir ist dennoch daran nicht zerbrochen, eher gewachsen.

Nachdem er seinen Vater beerdigt hatte, der kurz nach seiner Freilassung verstorben war, verarbeitete er zurückgezogen seine Geschichte und publizierte sie schließlich letztes Jahr.

Der autobiographische Roman ist gelungen. Unverblümt und dennoch poetisch, fesselnd, ohne zu dramatisieren. Dialoge, die keine Emotionen preisgeben und dennoch zwischen den Zeilen freundschaftliche Loyalität bei Freud und Leid zu erkennen geben. Jeden Tag tritt er vor die Wärter, die zu Gegenspielern aber auch zu Leidensgenossen werden. Jeden Tag empfängt er Briefe von Freunden, Kommilitonen und Professoren, die die Termine der Verhandlungstage neben ihren Prüfungsterminen dick im Kalender ankreuzen. Jeden Tag denkt er an seine Familienangehörigen, die bei jeder Anhörung im Gerichtssaal auf einen Freispruch warten – in der Hoffnung, ihn endlich mit nach Hause nehmen zu können. Eine Zerreißprobe auf Zeit, Leid für alle Beteiligten. Inmitten all der Strapazen, Edemir: Das Lesen und Schreiben in seiner Zelle und das Sinnieren bei Ausgang im Hof mit anderen Insassen, helfen ihm, die Zeit zu überbrücken.

Das Verlagshaus Notabene in Istanbul hat ihn dabei sehr unterstützt und ermutigt, seine Geschichte niederzuschreiben und zu veröffentlichen. 2016 war sein Buch als Bestseller bei der Buchmesse TÜYAP in Istanbul vertreten. „Geschichte erleben, ist eine Sache; sie erneut auseinander zu nehmen, in Worte zu fassen und für die Leser zugänglich zu machen, eine andere“, sagt sein Verleger.

Nach dem ersten Roman ist auch sein zweites Buch erschienen: „Aşağıdan“ („Von unten“). Darin erzählt Edemir die Geschichte vieler Persönlichkeiten, denen er begegnet. Sie alle versuchen, in der Großstadtmetropole Istanbul zurechtzukommen. Es ist ein System, das für Außenseiter, Andersdenkende, Anderssprechende und regierungskritische Stimmen keinen Raum lässt. Darin kommen die Stimmen von Kurden, Linken, Religiösen, Nationalisten aber auch von Studenten, Schülern und Kindern zum Ausdruck. Durch ihre Augen wird ihr Leben, das durch ihre Träume, ihre Werte und ihren Glaube gefärbt ist, geschildert. Das Buch beschreibt, wie Ideen, Ideologien und Gesellschaftsklassen produziert werden und wie in der derzeitigen Türkei ihre Akteure in einem politischen System, das sich von Gegensätzen, von Gegenspielern nährt, in Position gebracht werden. Aufgrund der hohen Nachfrage, wird „Aşağıdan“ in einer weiteren Auflage erscheinen.

Der 1981 in Ardahan geborene Edemir blickt auf einen langen akademischen Werdegang zurück, er hat Philopsophie an der Universität Istanbul und Geschichte an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara (ODTÜ) studiert. Mit seinem angesammelten Wissen und seinen persönlichen Erlebnissen möchte er auf die politischen Verhältnisse im Lande aufmerksam machen. Mit der Aussicht, dass er auch international Gehör findet und vielleicht eines Tages die Ehre haben wird, im Ausland aus einem seiner Bücher vorzulesen, schreibt er unermüdlich weiter.

Derzeit lebt er in der Türkei. Als er 2010 inhaftiert wurde, war er Student an der renommierten ODTÜ. Der binationale Studiengang „German-Turkish-Masterstudies“, der in Kooperation mit der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt wurde, sollte ihm den Traum erfüllen, das zweite Studienjahr in Deutschland zu verbringen. Wenige Monate vor dem bevorstehenden Auslandsstudienjahr wurde er dann festgenommen.

Das anschließende endgültige Urteil von 6 Jahren und 3 Monaten Haft hat Edemir nicht absitzen müssen: Durch den gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 sitzen jene Richter, die Edemir damals verurteilt hatten, nun selbst im Gefängnis. Sie werden beschuldigt, Mitglieder der Gülen-Bewegung zu sein. Edemir lebt seither auf freiem Fuß, hat jedoch keine Ausreisegenehmigung aufgrund des bis heute andauernden Ausnahmezustands.

Edemirs Akte ist seither beiseite gelegt, das Urteil wurde auch im Nachtrag nicht mehr vollstreckt.

Für Edemir ein Segen, Glücksfall oder gar Ironie des Schicksals? Er weiß es nicht. Er wünscht seinen Urteilssprechern nichts Schlechtes. Ihnen Gutes zu wünschen, fällt ihm ebenfalls nicht leicht. Sie haben ihm seiner Freiheit beraubt. Noch heute sind die Spuren der Einsamkeit und Leere zu spüren. Hüseyin lebt eher zurückgezogen in der Türkei, meidet Kontakte mit Unbekannten. Er befürchtet, dass wenn sich der Wind wieder dreht, seine Akte erneut auf den Tisch des Richters kommt. Sein Fall ruht, seine Feder nicht.


Wer sich für Edemirs Werke interessiert und bestellen möchte, kann sich an den Verlag Notabene wenden:

NotaBene Yayınları
e-mail: [email protected]

www.notabeneyayinlari.com