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Gesellschaft

„Ich habe mich oft dafür geschämt, ein weißer Muslim zu sein“

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„Mama don´t cry!” Tülay Demircan-Koyuncu hatte auf einmal dutzende Hände in ihrem Gesicht. Eigentlich war sie zu den Kindern nach Somalia gereist, um sie zu trösten, doch nun waren sie es, die ihr Trost spendeten.

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„Ich habe mich oft dafür geschämt, ein weißer Muslim zu sein“
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Das Ehepaar Koyuncu lebt in Berlin und reist nunmehr seit vier Jahren nach Somalia, um humanitäre Hilfe zu leisten und sich mit den bedürftigen Menschen dort zu solidarisieren. Ramiz Koyuncu (47) arbeitet als Teamleiter in einem großen Kaufhaus, seine Frau Tülay Demircan-Koyuncu (43) ist Hausfrau mit vielen ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Das engagierte Ehepaar hat fünf Kinder. Jede Reise nach Somalia, wo seit Jahren bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen, ist mit großen Gefahren verbunden. „Ich gehe hauptsächlich wegen den Waisenkindern hin”, sagt Tülay Demircan-Koyuncu, die selbst als Waisenkind groß geworden ist.

In der Hauptstadt Mogadischu haben sie sich in diesem Sommer vier Tage aufgehalten, um Hilfsgüter zu verteilen. Jeder Tag hat ihnen aufs Neue die Armut, den Hunger und den Tod vor Augen geführt. „Ich habe mich oft dafür geschämt, ein weißer Muslim zu sein“, räumt Ramiz Koyuncu ein. „Ich bereue es, dass ich nicht schon vor 20 Jahren nach Somalia gereist bin, um zu helfen”.

Das Ehepaar ist erst vor einigen Wochen von seiner letzten Reise aus dem krisengeschüttelten Land zurückgekehrt. DTJ-Online hat mit den Koyuncus über ihre Erlebnisse, Beobachtungen und Motivation, warum sie trotz der lebensgefährlichen Umstände auch künftig wieder nach Somalia reisen wollen, gesprochen.

Wann waren Sie das erste Mal in Somalia und wieso?

Ramiz Koyuncu: Das war 2011. Ich war mit einer Gruppe aus Berlin in Somalia, um das islamische Opferfest dort zu verbringen. Wir haben dort die Schächtung von Opfertieren begleitet und Hilfsgüter verteilt. Es wurden damals 3000 Großtiere am Strand geschlachtet und das unter der Aufsicht von 300 bis 400 Soldaten. Während der Schächtungen hörten wir immer wieder Schüsse im Hintergrund. Diese sollten uns verunsichern und davor abschrecken, das Land wieder zu besuchen. Jedoch hat mich gerade diese Erfahrung motiviert, seitdem jedes Jahr wieder nach Somalia zu gehen. In diesem Jahr war ich nun zum vierten Mal dort, zum dritten Mal mit meiner Frau, die mich in meinem Engagement nicht nur unterstützt, sondern selbst eine große Leidenschaft entwickelt hat.

Wieso reisen Sie immer wieder nach Somalia, Frau Koyuncu?

Ich bin selbst als Waisenkind groß geworden. Menschen, die nicht selbst auch Waise sind, können nur schwer nachvollziehen, wie schmerzvoll diese Erfahrung für ein Kind sein kann. Ich bin ohne Vater aufgewachsen, doch habe ich ihm immer Liebesbriefe und Gedichte geschrieben. Er hat mir all die Jahre gefehlt. In Somalia besuche ich meist das Waisenhaus für Mädchen.

Gab es ein prägendes Erlebnis für Sie?

Tülay Koyuncu: Mein Schlüsselerlebnis war, als ein kleines verwaistes Kind auf mich zulief und mich intensiv umarmte. So innig, dass wir zu diesem Augenblick eins wurden. So wie Mutter und Kind es nur werden können. Ich erfuhr, dass sie drei Jahre alt ist, also genau in dem Alter war, als auch ich meinen Vater verlor. In mir wurden alle Kindheitserinnerungen wach und ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten. Ich habe eine Ecke gesucht, um ungesehen ihnen freien Lauf zu lassen. Es hat mich tief berührt.

Jedoch bemerkten die Kinder, dass ich weine und kamen auf mich zu. Sie haben meine Tränen gewischt und gesagt: „Mama don´t cry! – Mutter, weine nicht!” Ich hatte auf einmal dutzende Hände in meinem Gesicht. Eigentlich bin ich zu ihnen gereist um sie zu trösten, doch nun waren sie es, die mir Trost spendeten. Es war so, als würde niemand anderes mich so verstehen wie diese Kinder. Ich kann nachvollziehen, wie es ist, ein Waise zu sein. Das schlimmste ist jedoch, dass diese Kinder nicht nur den Vater, sondern auch die Mutter verloren haben. Ich trauere heute noch um meinen Vater, obwohl inzwischen 40 Jahre vergangen sind. Ich will den somalischen Kindern das geben, was ihnen am allermeisten fehlt: Nämlich geliebt und umsorgt zu werden.

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Wie haben die Somalier Sie aufgenommen?

Ramiz Koyuncu: Sie sind sehr dankbar für jede Hilfe, die von unserer Seite kommt. Auch haben wir Worte gehört wie „Unsere eigenen Landsleute haben sich unserer Probleme nicht angenommen, aber ihr habt uns geholfen”. Und die Tatsache, dass wir jedes Jahr wiederkommen, macht unsere Hilfe für sie glaubwürdig. Wir sind nicht die „weißen Fremden“, die einmal im Jahr das Land besuchen und mal Hilfsgüter verteilen. Wir haben selbst sehr viel menschliche Nähe erfahren. Somalia hat uns bereichert.

In Somalia herrscht Bürgerkrieg. Die Folge ist Armut, Tod und Elend. Wie viel bekommen sie denn in dieser kurzen Zeit überhaupt mit?

Ramiz Koyuncu: Sehr viel. Es sind Babys in meinen Armen gestorben. Ich bin Vater von fünf Kindern und das Leid, das man dabei erfährt, ist nicht zu beschreiben. Die Kindersterblichkeit ist dort am höchsten. Es gab oft Situationen, wo ich mich geschämt habe, ein weißer Muslim zu sein. Wir leben in Deutschland in Reichtum und Überschuss, haben unzählige Möglichkeiten Leben zu retten, tun es aber nicht. Wäre ich doch schon vor 20 Jahren nach Somalia gereist.

Sie reisen immer wieder in ein Krisengebiet. Wie reagieren ihre Freunde, Bekannte und Kollegen?

Ramiz Koyuncu: Ich habe viel Zuspruch von Freunden erhalten und meine Kollegen waren auch sehr angetan von meinem Engagement. Keiner meiner Freunde hat mir davon abgeraten, in ein Krisengebiet wie Somalia zu reisen. Ganz im Gegenteil; sie haben mich unterstützt und immer wieder gesagt, dass es richtig ist, trotz der Gefahren dort tätig zu sein. Jedoch hat sich ihre Meinung nach unserer letzten Reise geändert. Jetzt wollen sie gar nicht mehr, dass wir dorthin reisen.

Tülay Koyuncu: Mein Bekanntenkreis hat mir jede Menge Spendenmaterial für Somalia mitgegeben und mich ermutigt, den Segen meiner Kinder bekam ich auch. Allerdings rieten uns einige Freunde, dass beim nächsten Mal wenigstes ein Elternteil in Berlin bleiben sollte. Schließlich haben wir fünf Kinder, die zwar zum Teil schon erwachsen sind. Doch den Verlust beider Elternteile sollten wir nicht riskieren, hieß es.

Was hat ihre Freunde dazu bewogen, ihnen von einem weiteren Engagement in Somalia abzuraten?

Ramiz Koyuncu: Es gab einen Bombenanschlag auf die türkische Botschaft und eine bewaffnete Auseinandersetzung in der Umgebung des Botschaftsgebäudes. Wir hatten großes Glück, dass wir nicht am Tatort waren, obwohl wir uns in der Nähe aufhielten. Meine Frau hatte zuvor schlecht geschlafen und meinte, dass etwas passieren würde und wir nicht wegfahren sollten. Sie hatte Recht mit ihrem Gefühl. Wir sind geblieben und haben den Bombenanschlag überlebt. Wir hätten auch dort sterben können. Die Al-Shabaab-Milizen, ein Arm der Terrorgruppe Al-Qaida, haben einen Fatwa verkündet, wonach es religiös legitim sei, alle Türken in Somalia samt ihrer somalischen Mitarbeiter zu töten. Wir wurden sozusagen für vogelfrei deklariert.

Wer hat denn die Herrschaft über das Land? Die Regierung oder die Al-Shabaab? 

Ramiz Koyuncu: Ausstattung und Logistik der Al-Shabaab-Terrorgruppe sind zum Teil stärker als die des Präsidenten. Regierungsgebäuden sind ständigen Bombenangriffen ausgesetzt. Während die Regierung auf die Hilfe von außen angewiesen ist, versucht die Terrorgruppe, dies zu verhindern.

Wie reisen sie denn von einem Ort zum anderen und verteilen Hilfsgüter, wenn die Lage dort so gefährlich ist?

Tülay Koyuncu: Wir wurden aufgrund d
er hohen Gefahrenlage mit munitionssicheren Autos vom Flughafen abgeholt und waren auch stetig in Begleitung von Soldaten unterwegs. Sie schützen uns vor den Terroristen. Zudem sind die Hilfsvereine „Kimse Yok mu” aus der Türkei (die Türkei kam 2012 auf Platz vier der viertgrößten Hilfespender der Welt) und „Time to help” aus Deutschland mit vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern und Ärzten im Land vertreten. Sie haben eine sehr gute Infrastruktur aufgebaut und verteilen bedürftigen Menschen Hilfsmittel und versorgen sie mit medizinischer Hilfe. Der Verein „Kimse yok mu“ stellt uns seine dortigen Räumlichkeiten zur Verfügung, die von den ehrenamtlich tätigen Ärzten angemietet werden.

Welche Haltung haben die Somalier gegenüber den helfenden Händen?

Ramiz Koyuncu: Den beiden Hilfsorganisationen ist es gelungen, das Vertrauen der Menschen und der Regierung zu gewinnen. Sie errichten Waisenhäuser, Polikliniken und Schulen. Es geht also nicht nur um kurzfristige Armutsbekämpfung, sondern um strukturelle Investitionen für die Zukunft von Somalia. Die Menschen sind aber auch sehr empfindlich. Viele sagen sinngemäß in etwa: „Auch wenn wir vor Hunger sterben, möchten wir keine neue Kolonialisierung durch irgendwelche fremde Herren.”

Gibt es ein großes Gedränge bei der Verteilung der Lebensmittelpakete?

Tülay Koyuncu: Überhaupt nicht. Der Gerechtigkeitssinn ist unter dem armen Volk stark ausgeprägt. Sie nehmen nie mehr, als ihnen zusteht. Standardmahlzeiten dort sind Reis und Fleisch.

Wie viele Flüchtlinge gibt es in Mogadischu?

Ramiz Koyuncu: In Mogadischu wurde viel bombardiert. Es sind nach verschiedenen Angaben 300.000 Menschen nach Mogadischu geflohen (Binnenflüchtlinge) und davon sind einige in die Pufferzone Kenia ausgewandert.

Gibt es viele, die das Land verlassen?

Ramiz Koyuncu: Die Somalier, die ins Ausland gehen, sind meist die wohlhabenden und diese gehen in Länder wie Kanada, Schweiz, Holland oder Belgien.

Werden Sie wieder nach Somalia reisen?

Ramiz und Tülay Koyuncu: Das werden wir tun, denn es gibt so viele Menschen, die auf uns warten.