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Gesellschaft

Hören wir auf, uns zu beleidigen und konzentrieren uns auf die Idee

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Streiten, gestikulieren, manchmal sogar beleidigen, bis der Arzt kommt. Eine türkische Diskussion über Politik kann schnell und leider oft ausarten. Dabei könnte man dem einen Riegel vorschieben.

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Ein Streit im türkischen Parlament.
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EINWURF „Die Beleidigungen sind die Argumente jener, die über keine Argumente verfügen.“ – Jean-Jacques Rousseau

Streitdiskussionen. Wahrscheinlich kennt jeder Türke die typisch türkischen Streitdiskussionen. Es wird geschrien, heftig gestikuliert und auch beleidigt. Beliebtes Thema: Politik. Nicht selten führt so eine politische Diskussion innerhalb der Familien dazu, dass Familienmitglieder nicht mehr miteinander reden. Wenn es ganz hart kommt, wollen sich die Beteiligten nicht einmal mehr sehen.

Gibt es wirklich einen Grund dafür, dass es soweit kommen muss? Oder sind wir Türken einfach nicht dazu imstande, uns politisch auseinanderzusetzen? Spätestens nach den Prügelattacken im türkischen Parlament oder den zahlreichen Kommentaren unter den Artikeln auf unserer Facebookseite wird deutlich, wovon hier die Rede ist. Beleidigungen und Anschuldigungen bilden oftmals den Tenor. In verschiedensten Variationen werden Mütter, Väter und Geschwister diffamiert. Völlig losgelöst von der Bedeutung, werden Begriffe wie „Jude“, „Hurensohn“ oder „Vaterlandsverräter“ gegen andere verwendet. Wie pöbelnde Fußballfans schreien wir die Gegenseite an. Ihr Verhalten, ihre Fehler und Fouls bringen unseren Puls auf ein Maximum. Zügellos hauen wir verbal auf den Putz, während wir blind gegenüber unseren Fouls und Fehlern sind. Statt sachlich und konstruktiv über die Artikel zu schreiben, wird flächendeckend beleidigt. Aber sollte es uns nicht darum gehen, gemeinsam zu debattieren, damit unterschiedliche Auffassungen besprochen und gemeinsame Wege gefunden werden können?

Idee rückt in den Hintergrund

Denn leider vernebeln uns Beleidigungen und Anschuldigungen die Sicht auf das tatsächlich Wichtige: die Idee. Die Idee ist es, die unsere Streitkultur bestimmten sollte. Stattdessen mache ich eine ganz andere Beobachtung. Es gibt die seltsame Eigenart, immer aus einem bestimmten Standpunkt aus zu argumentieren. Die Eigenart, sich dazu verpflichtet zu fühlen, gewisse Personen zu verteidigen, die Ehre einer Person oder Sache in Schutz zu nehmen. Oft wird lediglich ein schwarz-weiß Denken an den Tag gelegt. Die Frage nach einem Für oder Gegen. Etwas dazwischen scheint es nicht zu geben. Für oder gegen Erdoğan, für oder gegen Atatürk, für oder gegen Politiker XY. Dabei geht es in erster Linie nicht um Erdoğan, Atatürk oder um Politiker XY. Es geht darum, was geschieht oder geschehen soll. Es geht um konkrete Pläne, um Inhalte – um die Idee. Neben wir einmal an, es würde beschlossen werden, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, weil die Bevölkerung immer älter wird. Die Idee ist gut oder schlecht, weil sie eben gut oder schlecht ist und nicht weil Erdoğan oder ein oppositioneller Politiker diese Idee hat. Wir müssen uns eine Sache merken:

Richtiges sollte richtig und Falsches immer falsch genannt werden – unabhängig von den Personen. Hören wir also damit auf, andere zu beledigen und konzentrieren uns lieber auf die Idee. Menschen kommen und gehen in der Politik. Das ist normal, das ist Demokratie. Wichtig ist das Verhalten, die Art, wie Politik betrieben wird, die Idee. Denn das ist das, was bleibt.

„Und was ist mit Deutschland?“

Es gibt noch eine zweite Beobachtung, die ich gemacht habe. Das Phänomen des „Whataboutism“ (engl. What about? – Was ist mit?), wie es auf Englisch so schön heißt, ist weit verbreitet. Es geht darum, mit Aussagen wie „Und was ist mit Deutschland? Die machen das genau so“ oder „Die USA machen das auch und werden nicht kritisiert“ die eigene Schuld, den eigenen Fehler zu relativieren. Man vergleicht einen bestimmten politischen Fall reflexartig mit einem ähnlichen, ausländischen, „gegnerischen“ Fall.

Diese Logik kann man bei Kindern häufig feststellen. „Alis Mutter erlaubt es ihm aber auch“ oder „Papa hat das gestern aber auch gemacht“ sind typische Beispiele dafür. Nun ist es aber völlig unwichtig, was Alis Mutter erlaubt hat oder dass Papa irgendetwas auch gemacht hat. Das darf nicht die Legitimation für Falsches, für fehlerhaftes Verhalten sein. Falsches bleibt trotzdem falsch. Dabei geht es gar nicht darum, andere zu verteidigen oder die Fehler der anderen zu leugnen. Wenn ich auf unsere Fehler aufmerksam mache, leugne ich damit nicht die der anderen.

Wir müssen lernen, kritikfähig zu werden. Zu oft nehmen wir Kritik zu persönlich, anstatt sie als Ratschlag zu sehen. Uns fällt es leichter, das Kind zu spielen. Das Kind, das die Schuld bei anderen sucht, um von seinen eigenen Fehlern abzulenken. Stattdessen sollten wir erwachsen werden, und uns mit unseren Macken auseinandersetzen, bevor wir uns denen der anderen widmen. Wir sollten uns der Verantwortung stellen.

Autoreninfo: Kaan Bağcı ist 20 und studiert im dritten Semester Politikwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er absolviert derzeit ein Praktikum in unserer Redaktion.