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Politik

Im Namen der Demokratie und des Islams

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Wenn von „Säuberungen und Hexenjagd“ – beides Zuschreibungen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan – gegen den Prediger Fethullah Gülen und dessen Bewegung die Rede ist, sprechen die meisten deutschen Medien von einem „Machtkampf zwischen zwei ehemaligen Verbündeten“. Sie datieren den Anfang dieses Machtkampfes auf Ende 2013, als eine große Korruptionsaffäre die türkische Öffentlichkeit erschütterte. Wenn man sich aber tagesaktuelle Erklärungen von Politikern der regierenden AKP ansieht, bekommt man einen anderen Blick auf den „Machtkampf“ und es drängt sich die Frage auf, ob Erdoğan und die AKP nicht eine Doppelstrategie gegen Gülen und seine Bewegung, die sich selbst als „Hizmet“ bezeichnet, verfolgt haben.

Vieles spricht dafür. Zum Beispiel die Aussagen des Justizministers Bekir Bozdağ. Er gesteht heute ein, dass es Erdoğan gewesen ist, der zu allererst die von Gülen ausgehende „Gefahr für die Staatssicherheit“ erkannt habe: „Und das bereits 2010.“ Also drei Jahre bevor der vermeintliche Machtkampf zwischen der AKP und der Bewegung begann.

Obwohl die AKP also seit 2010 offensichtlich hinter den Kulissen die Bewegung bekämpfte und Vorbereitungen für weitere Maßnahmen traf, um sie zu schwächen, gab sie nach außen stets das Bild einer Zusammenarbeit ab. In einer Parlamentsrede vom 24.03.2011, die auf YouTube zu sehen ist, findet Bozdağ höchst lobende Worte für Gülen. Der Minister geht darin auf Kritik an Gülen aus den Reihen der Oppositionsparteien ein. Der Prediger sei ein „kostbarer Wert“ des Landes: „Sie können ihn mögen oder nicht. Er erfüllt einen wichtigen Dienst, indem er Generationen heranbildet, die sich nationalen und geistigen Werten dieses Landes verpflichtet fühlen. Und alles, was er macht, ist transparent und geschieht unter staatlicher Aufsicht. Wenn Sie sich diese wertvollen Dienste vor Augen führen und ihm vorwerfen, eine illegale Organisation anzuführen, ohne dass es eine Anklage eines Staatsanwalts dazu gibt, dann tun Sie ihm Unrecht.“ Ein Unrecht, das die AKP seit dem 17. Dezember 2013 tagtäglich begeht, und das ohne Skrupel.

17/25

Nicht nur wenn man AKP-Spitzenpolitikern zuhört, gewinnt man den Eindruck einer Doppelstrategie gegen Gülen. Kemal Kılıçdaroğlu, Oppositionsführer von der republikanischen Volkspartei CHP, hat 2014 in einer Rede vor der Parteiversammlung ein Dokument vorgelegt. Es handelte sich dabei um einen Beschluss des Nationalen Sicherheitsrates von 2004, wonach die Bewegung von Gülen auf Empfehlung der Militärs bekämpft und möglichst zerschlagen werden soll. Kılıçdaroğlu geht darin auf die Korruptionsaffäre vom 17. und 25. Dezember 2013 ein, während der Geld in Koffern von AKP-nahen Verdächtigen transportiert wurde: “Sie sagen, dass 17/25 der Wendepunkt (im Kampf gegen die Hizmet-Bewegung, Anm. d. Red.) sei. Was ist da passiert? Wir haben gesehen, wie die Regierung das Volk ausraubt. In wessen Haus wurden Dollarscheine gefunden? Ihr rächt euch. Der eigentliche Wendepunkt ist der 25. August 2004.“

Das Dokument aus dem Jahre 2004 spielt nicht nur in der politischen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition eine Rolle. In seiner Aussage vor dem Parlamentsausschuss, der den gescheiterten Putsch vom 15. Juli 2016 aufarbeiten soll, verweist der damalige Generalstabchef Hilmi Özkök auch darauf: „Wir haben die Regierung klar und deutlich in Kenntnis gesetzt und auch gesagt, dass die Situation nicht gut ist. Dort wurde eine Entscheidung getroffen, die auch Handlungsempfehlungen beinhaltete. Das waren Empfehlungen des Sicherheitsrates an die Regierung. Wie haben danach genau beobachtet, ob die Regierung etwas unternahm oder nicht.“

Das historische Dokument trägt auch die Unterschriften des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der noch im Sommer 2012 Gülen mit großspurigen, aber offenbar unaufrichtig gemeinten Worten in die Türkei einlud. Als Gastredner der Internationalen Kulturolympiade sagte er in Istanbul: „In der Fremde leben heißt Sehnsucht haben. Und der Preis dafür ist sehr hoch. Wir wollen diejenigen, die in der Fremde Sehnsucht nach diesem Land haben, unter uns sehen. Lasst uns die Sehnsucht beenden.“

Das Militär als Wächter der gesellschaftlichen Ordnung

Es gibt da noch etwas, das der Ex-Generalstabchef Özkök vor dem Ausschuss preisgibt. Und zwar, dass genau darauf geachtet wurde, welche politische oder religiöse Gesinnung ein Militärangehöriger hatte. “Ein Fethullahçı zu sein, ist kein Straftatbestand“, sagt Özkök, „das einzige, was wir machen konnten, war, personenbezogene Daten über sie anzulegen und mittels eines Disziplinarverfahrens die betreffenden Personen aus dem Militär zu verbannen.“

Damit schildert Özkök eine Jahrzehnte alte Praxis des türkischen Staates, insbesondere des Militärs. Da er sich als eine Festung des strengen Kemalismus und zudem als Wächter der gesellschaftspolitischen Ordnung verstand, hat das Militär alles daran gesetzt, dass „feindliche Gruppen“ nicht in die Gunst kamen, für den Staat zu arbeiten. Zu den feindlichen Gruppen zählte der Staat seit der Republiksgründung auch zivile muslimische Bewegungen, die sie mit der staatlichen Religionsbehörde Diyanet nur begrenzt unter Kontrolle halten konnte. Der Kampf mit ihnen lief bis zur AKP-Zeit unter dem Sammelbergriff „Irtica ile mücadele – Kampf gegen Rückständigkeit und Reaktionismus“. Wenn sie es trotzdem schafften, in den Staatsdienst zu kommen, wurden eben illegal Dateien über sie angelegt, damit man ihre Karrierelaufbahn kontrollieren, verhindern oder gar über Disziplinarverfahren sie aus dem Staatsdienst entlassen konnte. Dafür brauchte man Gelegenheiten wie einen Ausnahmezustand oder Militärinterventionen, da es keine rechtliche Grundlage dafür gab, Beamte ohne weiteres zu entlassen. Es sind Phasen, in denen die Verfassung und Grundrechte de facto außer Kraft gesetzt wurden, so wie seit dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli.

Die Folge dieser Praxis war nicht nur, dass die Angehörigen der Hizmet-Bewegung, sondern alle, die nach Auffassung der Militärs nicht 100-prozentig von der kemalistischen Ideologie überzeugt waren, ihre wahre Identität verstecken und eigene Netzwerke im Staat bilden mussten. Die Ungleichbehandlung durch den laizistischen Staat führte zum Aufbau von Schutzmechanismen mit fatalen und dramatischen Folgen, wie man heute weiß.

Wie die AKP die Herzen der Skeptiker eroberte

Ein Beispiel, wie aus hizmetnahen Akademikern und bürokratischen Eliten nach der Machtergreifung der AKP im Jahre 2002 begeisterte Anhänger der Erdoğan-Partei wurden, liefert die Erfahrung von Prof. Ali Aktoprak (Name von der Redaktion geändert) aus Izmir und Ali Fuat Yılmazer aus Istanbul. Beim ersteren handelt es sich um einen erfolgreichen Naturwissenschaftler, der neben seiner Tätigkeit als Dozent an der staatlichen Universität als verantwortlicher Redakteur für die Monatszeitschrift Sızıntı tätig war. Dr. Aktoprak hatte 1977 gemeinsam mit anderen Jungakademikern aus dem nahen Umfeld Gülens die populärwissenschaftliche Zeitschrift mitbegründet, die nach dem gescheiterten Putsch von der AKP-Regierung verboten wurde. Wegen seiner Nähe zu Gülen, der bis zu seinem Umzug nach Istanbul Anfang der 1990er Jahre in Izmir lebte und wirkte, war Dr. Aktoprak gebrandmarkt. Obwohl er alle fachlichen und formellen Voraussetzungen erfüllte, wurde ihm zehn Jahre lang ohne Angabe von Gründen verwehrt, einen Lehrstuhl zu übernehmen und Professor zu werden. Als die AKP an die Regierung kam, rief ihm derselbe Dekan, der ihn jahrelang benachteiligte, zu sich und sagte ihm, dass er ab sofort eine Professur bekommen könne: „Ab da war ich natürlich ein begeisterter AKP-Anhänger“, sagt er im Rückblick.

Genau der Wegfall dieser langjährigen systematischen Benachteiligung durch die kemalistischen Eliten hat viele Hizmet-Bürokraten zu überzeugten AKP-Anhängern, wenn nicht Erdoğan-Bewunderern, werden lassen. Und Erdoğan bediente sich dieser Loyalität, obwohl er die Bewegung innerlich gehasst und sie lediglich als eine weitere Stütze auf seinem Weg an die Staatsspitze gesehen haben muss. Dr. Aktoprak musste die Türkei verlassen, weil er in der Türkei wegen „Mitgliedschaft in einer Terroristischen Organisation“ gesucht wird.

Die Geschichte von Ali Fuat Yılmazer gibt einen Einblick in die Verquickung hizmetnaher Bürokraten mit der langfristigen Machtstrategie Erdoğans. Der ehemalige Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes von Istanbul war bis zu seiner Verhaftung im Juli 2014 ein enger Mitarbeiter des heutigen Staatspräsidenten. Einige Monate vor seiner Verhaftung beschrieb er, wie eng die Zusammenarbeit mit Erdoğan während der Ergenekon-Prozesse war: „Nach Februar 2008 habe ich mich bei jeder Gelegenheit mit ihm getroffen. Ich habe mit ihm über die Dokumente, die während der Ermittlungen auftauchten, gesprochen und ihm die Liste, der zu verhaftenden Personen vorgelegt.“ Yılmazer spricht von über 40 Gesprächen mit Erdoğan zu den laufenden Ermittlungen. Davon viele unter vier Augen. Genau darin sieht der Journalist Adem Yavuz Arslan das Grundproblem der Zusammenarbeit von Hizmet-Bürokraten mit der AKP-Regierung: „Sie haben auch gesetzeswidrigen Anweisungen von Herrn Erdoğan Folge geleistet.“

Kein Grundstück für Hizmet

Erdoğan kommt aus dem politischen Islam. Er hat in seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul Abstand zu der Bewegung gehalten. Gürsel Tekin von der oppositionellen CHP, der seine politische Laufbahn in den 1990er Jahren als Kommunalpolitiker in Istanbul begann, verweist auf diese Anti-Gülen-Haltung Erdoğans: „Solange Sözen (Nurettin Sözen von der CHP, war vor Erdoğan OB von Istanbul, Anm. d. Red.) und Erdoğan im Amt waren, hat die Bewegung, obwohl sie sich sehr darum bemüht hat, kein einziges Grundstück bekommen.“

Tausende Menschen aus der Hizmet-Bewegung mussten wie Prof. Ali Aktoprak das Land verlassen, um einer Verhaftung durch Erdoğan zuvorzukommen. Weitere Spiztenbeamte wie Yılmazer sitzen im Gefängnis. Erdoğan hingegen hat seine Macht mit der Unterstützung der Hizmet-Bewegung in der Türkei gefestigt.

In seinem Vernichtungskampf gegen Hizmet findet Erdoğan Verbündete, die die Bekämpfung von religiösen Bewegungen von jeher auf der Agenda haben: Die Kemalisten. Die Tageszeitung Hürriyet hat während des sogenannten postmodernen Putsches von 1997 die Maßnahmen der Militärs gegen Hizmet und andere religiöse Bewegungen unterstützt und steht heute der AKP-Regierung bei ihren Säuberungsaktionen zur Seite. Der damalige Chefredakteur und heutige Kolumnist der säkularen Zeitung, Ertuğrul Özkök, sieht in den aktuellen Maßnahmen die Umsetzung jener Pläne, die die Generäle schon 1997 schufen. Er zählt die seit dem Putschversuch geschlossenen Schulen, Gewerkschaften, Medien und Vereine, die aus der Hizmet-Bewegung entstanden sind, auf und kommt zu dem Schluss: „Genau das war das Ziel der Beschlüsse des 28. Februars. Aber sie waren nicht erfolgreich.“

Sie konnten nicht erfolgreich sein, weil die Generäle erstens keine demokratische Legitimation hatten und zweitens, weil ihr Kampf von der türkischen Öffentlichkeit auch als ein Kampf gegen den Islam wahrgenommen wurde. Nach knapp 20 Jahren steht mit Erdoğan nicht ein General, sondern ein Politiker an der Spitze des Kampfes gegen die Zivilgesellschaft und der Hizmet-Bewegung. Er setzt aber den Plan nicht im Namen Atatürks und des Laizismus um, sondern im Namen der Demokratie, Staatsräson und des Islam.