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Politik

Im NSU-Gerichtssaal wird mutmaßlichen türkischen Terroristen der Prozess gemacht – zu Unrecht?

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Die deutsche Justiz geht gegen die Führungsriege der türkischen Terrororganisation TKP/ML in Deutschland vor. Zehn mutmaßlich führende Mitglieder wurden in den letzten Monaten verhaftet und kommen nun vor Gericht. Sie erhalten jedoch auch große Solidarität; ihre Unterstützer sagen, die Angeklagten haben sich keiner Straftaten schuldig gemacht, sondern wurden nur wegen ihrer politischen Haltung angeklagt. Sitzen die Falschen im Gefängnis?

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Im Saal 101 des Oberlandesgerichts München sitzt die bekannteste Angeklagte Deutschlands, die NSU-Terroristin Beate Zschäpe. Für 150.000 Euro am Tag wird ihr hier der Prozess gemacht. An den Tagen, an denen nicht Zschäpe und ihre Handlanger auf der Anklagebank sitzen, beherbergt der Saal nun ein anderes Verfahren, in dem mutmaßlichen Mitgliedern einer terroristischen Vereinigung der Prozess gemacht wird, die unterschiedlicher kaum sein könnte.

Die deutsche Justiz geht gegen die Führungsriege der türkischen TKP/ML („Türkische Kommunistische Partei/ Marxisten-Leninisten“) in Deutschland vor. Zehn mutmaßlich führende Mitglieder stehen nun in München vor Gericht. Ihnen drohen mehrjährige Haftstrafen, weil sie die Arbeit der TKP/ML-Auslandsorganisation geleitet haben sollen. Die Liste der Vorwürfe ist lang: Es geht unter anderem um Millionenbeträge, die die Gruppe in den vergangenen Jahren in Deutschland eingetrieben haben soll, um die Rekrutierung von Kämpfern und Freiwilligen für ein militärisches Ausbildungslager im Irak sowie das Beschaffen von gefälschten Ausweisen und Ausrüstung für den bewaffneten Kampf in der Türkei. Doch die Gruppe erhält auch Solidarität von deutschen Organisationen aus dem Umfeld der MLPD und der autonomen Antifa. Ihre Unterstützer werfen der deutschen Justiz vor, die zehn Angeklagten, denen keine Straftaten zur Last gelegt werden könnten, mittels eines Gummiparagraphen für ihre politische Gesinnung bestrafen zu wollen.

Terrororganisation oder Arbeiterpartei?

Die TKP/ML ist eine 1972 vom türkischen Revolutionär und marxistischen Ideologen İbrahim Kapakkaya gegründete leninistisch-maoistische Partei. Kapakkaya ist bis heute eine Ikone unter türkischen Kommunisten. Erklärtes Ziel der Partei ist die bewaffnete Zerschlagung des türkischen Staates und die Errichtung eines „demokratischen Volksstaats“, wozu sie bewaffnete Einheiten unterhält, die sogenannte „Türkische Arbeiter- und Bauernbefreiungsarmee“ TİKKO („Türkiye İşçi Köylü Kurtuluş Ordusu“).

Die in der Türkei verbotene TİKKO hat bisher mehrere Schusswaffen-, Sprengstoff- und Brandanschläge mit Toten und Verletzten verübt und arbeitet seit 2007 verstärkt mit der PKK zusammen. Sie betreibt ein militärisches Ausbildungslager im Nordirak und ist Teil der „Vereinigten Revolutionsbewegung der Völker“, einem Zusammenschluss mehrerer Terrorgruppen unter Führung der PKK, dessen Gründung am 12. März vom PKK-Chefideologen Duran Kalkan verkündet wurde.

Bereits seit 1974 ist die TKP/ML auch in Deutschland aktiv und wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Laut einer Anfrage der Linken-Fraktion im Bundestag vom Januar 2016 hat das Justizministerium erstmals im August 2006 eine Strafverfolgungsermächtigung für die Mitgliedschaft in der TKP/ML und der TİKKO als ausländischer terroristischer Vereinigung erteilt. Wie der Nürnberger Rechtsanwalt Manfred Hörner, Verteidiger eines der Angeklagten, gegenüber DTJ betont, wird die TKP/ML jedoch (im Gegensatz zur PKK oder DHKP-C) nach deutschem Recht nicht als Terrororganisation eingestuft.

Die zwei Flügel der Partei, in die sie sich 1994 aufgespalten hat – die „Maoistische Kommunistische Partei“ (MKP) und der „Partizan-Flügel“ – haben laut dem aktuellen Verfassungsschutzbericht zusammen ungefähr 1.300 Mitglieder in Deutschland – Tendenz seit Jahren stagnierend. Nun scheint es so, als ob die Bundesanwaltschaft einen Schlag gegen deutschen Organisationsstrukturen der TKP/ML durchführt.

Prozess gegen die mutmaßliche Führungsstruktur in Westeuropa

Letzten Donnerstag teilte der Generalbundesanwalt mit, dass am 31. März vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München Anklage gegen den türkischen Staatsbürger Mehmet Yeşilçalı erhoben wurde. Er soll vom Sommer 2012 bis zum Sommer 2014 dem Führungsgremium der TKP/ML-Auslandsorganisation in Deutschland angehört haben und Gebietsverantwortlicher für die Schweiz gewesen sein. In dieser Funktion soll der 52-Jährige europaweit Propagandaveranstaltungen organisiert haben, die dazu dienten, Finanzmittel zu beschaffen und neue Mitglieder zu werben. Ab 2014 soll Yeşilçalı im „Gebiet Naher Osten“ tätig und an der Vorbereitung eines Parteikongresses beteiligt gewesen sein. Mitte April 2015 allerdings wurde er aufgrund eines deutschen Haftbefehls in der Schweiz festgenommen und am 08. März 2016 nach Deutschland überführt, wo er sich jetzt in Untersuchungshaft befindet.

Bereits letztes Jahr wurden mehrere mutmaßlich führende TKP/ML-Mitglieder verhaftet und nach Deutschland überstellt. So wurden im August und November der 50-jährige Sami Solmaz und der 47-jährige Deniz Pektaş von französischen Behörden ausgeliefert. Dem türkischen Staatsbürger Sami Solmaz wird vorgeworfen, als Gebietsverantwortlicher für den Raum Frankreich von Deutschland aus die Arbeit des TKP/ML-Auslandskomitees organisiert zu haben. Dabei soll er Propagandaveranstaltungen durchgeführt, Finanzmittel eingetrieben, die ideologische Schulung von Anhängern organisiert sowie Parteikader aus der Türkei geschleust und Freiwillige für das Ausbildungslager im Nordirak rekrutiert haben.

Der Deutsche Deniz Pektaş wiederum soll der Gebietsverantwortliche der „Region Süd“ gewesen sein, zu der unter anderem die Städte Stuttgart, Nürnberg, Ulm und Regensburg gehören. Er soll sämtliche Aktivitäten der TKP/ML in Süddeutschland geleitet haben, insbesondere das Sammeln von Spenden und die Rekrutierung neuer Mitglieder. Außerdem habe er „Sonderaufgaben“ übernommen: Ihm wird vorgeworfen, Ausrüstungsgegenstände für den bewaffneten Kampf in der Türkei und gefälschte Personalpapiere für Mitglieder der Organisation beschafft zu haben.

Vor Gericht wegen ihrer politischen Gesinnung?

Am 4. Januar 2016 wurde gegen Pektaş und Solmaz sowie sieben weitere mutmaßliche TKP/ML-Mitglieder Anklage erhoben, darunter der von Rechtsanwalt Hörner vertretene Dr. Sinan Aydın, der erst 2012 nach Deutschland kam und aufgrund seiner Qualifikation als Arzt im Schnellverfahren eine Aufenthaltserlaubnis erhielt. Der ranghöchste unter ihnen ist der als Rädelsführer angeklagte 56-jährige Türke Müslüm Elma, der seit 2002 der Führungsspitze der TKP/ML in der Türkei angehört hat. Hörner zufolge saß er bereits in der Türkei über 20 Jahre in Haft, nahm im Gefängnis an Hungerstreiks und Todesfasten teil. Ab 2004 soll er der Chef der TKP/ML-Auslandsorganisation gewesen sein und als solcher jährlich eine halbe Million Euro an Finanzmitteln für sie eingetrieben haben. Laut Bundesanwaltschaft leistete er damit „einen unerlässlichen Beitrag zur Finanzierung der Vereinigung“.

Die Gruppe, die jetzt vor Gericht steht, soll maßgeblich die Aktivitäten der TKP/ML in der Bundesrepublik organisiert und neue Mitglieder für den bewaffneten Kampf in der Türkei rekrutiert haben. Allen Angeklagten wird Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung gemäß §129 a und b StGB vorgeworfen. Wie DTJ aus der Bundesanwaltschaft erfahren hat, wurde eine Zusammenlegung der beiden Verfahren bereits beantragt und wird aller Voraussicht nach auch erfolgen.

Yunus Ziyal, Anwalt der Angeklagten Dilay Banu Büyükavcı – die als Psychiaterin in Nürnberg arbeitete – kritisiert das Verfahren in einem Interview mit der Jungen Welt scharf. Dem Rechtsanwalt aus München zufolge werden den Angeklagten keine konkreten Taten zur Last gelegt. Vielmehr werde in der 300-seitigen Anklageschrift „absurd weit ausgeholt“, um aus der Organisation von Veranstaltungen und dem Sammeln von Spenden einen Straftatbestand zu konstruieren. „Sie selber haben weder Anschläge verübt, noch irgendwelche Straftaten“, betont Ziyal. Besonders bemerkenswert sei dabei, dass einige der Beschuldigten bereits in der Türkei inhaftiert waren: „Weil sie dort aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der TKP/ML verfolgt wurden, hatten sie in Deutschland Asyl erhalten. Nun aber sitzen sie aus dem gleichen Grund hierzulande wieder im Gefängnis.“

Weites Beziehungsgeflecht in Deutschland

Laut Verfassungsschutz unterhält die leninistisch-maoistische Partei mehrere Tarnorganisationen in Deutschland. So ist die „Konföderation der ArbeiterInnen aus der Türkei“, kurz ATİK (Avrupa Türkiyeli İşçiler Konfederasyonu), laut dem Verfassungsschutz NRW eine Organisation der TKP/ML. ATİK ist wiederum Teil der „antiimperialistischen Aktion“, einem Bündnis verschiedener deutscher autonomer Gruppen, die dem stalinistischen und maoistischen Spektrum zugeordnet werden.

So wird auf der Internetseite der „Roten Fahne“, der Parteizeitung der MLPD (Marxistisch-Leninistische Partei Deutschlands) zur Solidarität mit den Inhaftierten aufgerufen. Am 16. April hat das Bündnis „Freiheit für ATİK“ in Nürnberg eine Demo für die zehn inhaftierten TKP/ML-Kader veranstaltet, der „Roten Fahne“ zufolge zogen 400 Demonstranten – darunter Ziyal und Hörner – von der Innenstadt zu dem Gefängnis, in dem einer der Angeklagten einsitzt. Mitglieder des Bündnisses „Freiheit für ATİK“ sind nicht nur türkische und kurdische Vereine, sondern auch die MLPD, die Rote Hilfe e.V., das Internationalistische Kollektiv Berlin und die Interventionistische Linke (IL), ein Zusammenschluss aus mehreren – laut eigener Darstellung – „linksradikalen und antikapitalistischen“ Gruppierungen. Die IL gilt als eine Nachfolgeorganisation der im September 2014 aufgelösten Antifaschistischen Linken Berlin (ALB), die einer der zentralen Akteure der autonomen Antifa-Szene der Hauptstadt war. Die Forderung der Demonstration: „Weg mit den Paragraphen 129 a und b !“, also dem Straftatbestand der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Das fordert auch die ebenfalls vom Verfassungsschutz beobachtete Rote Hilfe e.V., eine „Schutz- und Solidaritätsorganisation“, die linke Aktivisten unterstützt, welche mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Bei der Forderung nach Abschaffung des Paragraphen 129 „geht es jedoch keineswegs darum, dass wir die Mitgliedschaft in terroristischen Vereinigungen legalisieren wollen“, betont Michael Csaszkoczy gegenüber DTJ. Csaszkoczy ist Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe und erklärt mit Nachdruck, dass es bei der Unterstützung für die Angeklagten nicht um eine politische Positionierung gehe, sondern darum, dass es sich bei Paragraph 129 um ein „Organisationsdelikt“ handele, „das mit rechtsstaatlichen Standards nicht vereinbar“ sei. Der Paragraph werde aus rein politischen Gründen angewandt, wenn es ansonsten keine hinreichenden Straftatbestände gebe, die den Angeklagten zur Last gelegt werden können.

„Seit wann ist Spendensammeln in Deutschland eine Straftat?“

„Die Anklageschrift ist eine relativ abenteuerliche Konstruktion“, betont der hauptberufliche Lehrer. Vor allem kritisiert er, die Anschuldigungen würden auf weitergeleiteten Vorwürfen aus der Türkei basieren, die vom deutschen Gericht unhinterfragt übernommen worden seien. Wie schlecht es um die Rechtsstaatlichkeit und die Unabhängigkeit der Justiz in der Türkei stehe, sei jedoch landläufig bekannt, deshalb „können wir nicht akzeptieren, dass ein deutsches Gericht das eins zu eins als eine rechtsstaatlich zustande gekommene Beweisführung wertet.“ Man solidarisiere sich nicht aufgrund ideologischer Nähe mit der TKP/ML, deshalb sei es auch nicht die entscheidende Frage, ob sie eine Terrororganisation ist oder nicht. „Sie können von der Roten Hilfe jederzeit Solidarität mit linken Aktivisten erwarten, aber keine allgemeinen politischen Aussagen.“

Die Vorwürfe Ziyals und Csaszkoczys weist die Bundesanwaltschaft gegenüber DTJ entschieden zurück: Man lege den Beschuldigten sehr wohl konkrete Straftatbestände zur Last, die innerhalb des Paragraphen 129 behandelt werden. Und die Informationen darüber kämen nicht aus der Türkei, sondern es gehe um Tathandlungen, die in Deutschland durchgeführt und von der deutschen Polizei ermittelt wurden.

Manfred Hörner will das so nicht stehen lassen: Die Angeklagten seien alle unbescholten und nicht vorbestraft. Sie hätten sich keiner Tätigkeit schuldig gemacht, die nach deutschem Recht strafbar ist, ansonsten hätten diese gesondert in der Anklage aufgeführt werden müssen, betont der Rechtsanwalt, und verweist darauf, dass die TKP/ML nicht auf der Terrorliste der EU steht. „Ich verstehe nicht, warum die Arbeit einer Organisation, die 40 Jahre lang legal in Deutschland arbeiten konnte, plötzlich kriminalisiert wird. Oder seit wann ist Spendensammeln in Deutschland eine Straftat?“

Ob den Angeklagten tatsächlich nur Spendensammlungen und politische Flugblätter vorgeworfen werden können, wird der am 3. Juni beginnende Prozess zeigen müssen. Bis zur Sommerpause soll zweimal die Woche getagt werden, ab September dann dreimal die Woche – im Saal 101 wechseln sich dann TKP/ML und NSU ab. Schnelle Antworten sind nicht zu erwarten, laut Rechtsanwalt Hörner wird sich der Prozess mindestens bis weit ins nächste Jahr hinein hinziehen. Es bleibt zu hoffen, dass in dieser Zeit mehr Fragen beantwortet als neu aufgeworfen werden – das würde ihn vom anderen Prozess im selben Saal unterscheiden.


Foto: ATIK