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Gesellschaft

Immer noch mehr Fragen als Antworten

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Ein Jahr nach dem mutmaßlichen Doppelselbstmord von Eisenach ist das Vertrauen vieler Menschen, vor allem Migranten, in den Rechtsstaat zerstört. Der bevorstehende NSU-Prozess und der U-Ausschuss haben die Pflicht, es wiederherzustellen. (Foto: dpa)

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Wer im „tagesschau“-Archiv die Abendnachrichten vom 4.11.2011 aufruft, wird überrascht sein, in der Themenübersicht auf Belanglosigkeiten wie „Commerzbank“, „Steuerschätzung“ oder „Kohlendioxid-Ausstoß“ zu stoßen. Erst am 11.11. wurde in der Sendung erstmals – unter Verwendung des nonchalanten Begriffes „Dönermorde“ – im Rahmen eines längeren Beitrages über Ermittlungen zu einer „rechtsextremistischer Mordserie“ berichtet – nach einem Bericht über die Suche nach potenziellen Atommüll-Endlagern, aber immerhin noch vor dem Beitrag über den Beginn des Karnevals.

Was vor genau einem Jahr anfangs noch wie ein Doppelselbstmord zweier Bankräuber in Eisenach ausgesehen hatte, die sich in Anbetracht der herannahenden Polizeieinheiten selbst richteten, stellte sich in den darauf folgenden Tagen als Schlüssel zu einer der grausamsten Verbrechensserien der deutschen Nachkriegsgeschichte heraus. Gleichzeitig öffnete sich im Rahmen der weiteren Ermittlungen eine Büchse der Pandora, der seither täglich neue Informationen entweichen, die nicht nur Abgründe des Fremdenhasses im Lande offenbaren, sondern auch eine im besten Falle sorglose, im schlimmeren Falle jedoch ignorante Haltung in Teilen der Sicherheitsbehörden gegenüber dem Rechtsextremismus offenbaren.

Opfer zu Tätern erklärt

Die Ersten, die in den Tagen nach der Entdeckung des Terrortrios „Nationalsozialistischer Untergrund“ mit schnellen Erklärungen bei der Hand waren, sollten die Verschwörungstheoretiker sein. Sie nützten vor allem Blogs und soziale Netzwerke, um abenteuerliche Theorien über „Auftragsmorde von Geheimdiensten“ oder den angeblichen Versuch des Staates, „Multikulti-Kritiker“ mundtot machen zu wollen, zum Besten zu geben. Manche verbreiten sie heute noch.

Das Schlimme daran ist: Sie machen damit nicht viel anderes als über Jahre hinweg zahlreiche deutsche Sicherheitsbehörden auch. In nicht wenigen Fällen wurden die Opfer selbst und ihre Angehörigen wie Verdächtige behandelt und es wurden Hinweise auf mögliche kriminelle Verwicklungen gesucht, wo keine waren.

Im Juni 2007, wenige Monate nach dem Mord an der Polizeibeamtin Michèle Kiesewetter, wurden FBI-Profiler den Ermittlungen zu den so genannten „Ceska-Morden“ zugezogen. Ihre Einschätzung wies bereits damals auf eine fremdenfeindliche Motivation des oder der möglichen Täter hin: Der Täter sei diszipliniert, er habe die Männer erschossen, weil diese aus der Türkei gekommen seien oder so ausgesehen hätten. Seine Motivation sei eine Mischung aus persönlicher Veranlassung und Nervenkitzel gewesen. Der Mörder hege aus unbekannten Gründen eine tief sitzende Animosität gegen türkischstämmige Menschen. Er sei zudem bereit, mit seinen am helllichten Tage begangenen Taten ein hohes Risiko einzugehen. Diese Spur wurde jedoch von den Ermittlungsbehörden nicht weiterverfolgt.

Immer noch ungeklärte Fälle

Neben den Ceska-Morden hatte es noch eine Reihe weiterer bis dahin – zum Teil sogar noch bis heute – ungeklärter Verbrechen, zumeist Sprengstoffanschlägen, gegeben, die auf einen möglichen rechtsextremistischen Hintergrund hindeuteten. Es erscheint zwar auch aus heutiger Sicht plausibel, dass die Ermittlungsbehörden auf der Basis der ihnen vorliegenden Erkenntnisse keine Zuordnungen zu diesen treffen konnten. Was jedoch auch unter Berücksichtigung des damaligen eingeschränkten Erkenntnisstandes im Besonderen befremden mag, ist die Tatsache, dass Ermittlungsbehörden beispielsweise im Falle des Kölner Nagelbombenattentats vorschnell jedwede rechtsextremistische Motivation ausgeschlossen hatten.

Ein Jahr nach Entdeckung des Terrortrios ist die Aufarbeitung der Morde immer noch weit von deren Abschluss entfernt. Je mehr an Fragezeichen über zum Teil wirklich grobe Ermittlungspannen und an ungeklärten Fragen hinsichtlich möglicher Erkenntnisse und Versäumnisse der Verfassungsschutzbehörden auftauchen, umso weniger erweckt die Kritik an den Sicherheitsbehörden den Eindruck eines billigen Monday-Morning-Quarterbackings, sondern umso mehr deckt sie Anknüpfungspunkte für weitere Nachforschungen auf.

Der erfahrene CIA-Terrorismusexperte Bruce Riedel wird – in einem anderen Zusammenhang – von der FAZ mit den Worten zitiert: „Wenn sich jemand über viele Jahre einer intensiven Fahndung entziehen kann, dann genießt er staatlichen Schutz“. In einigen Liedertexten rechtsextremistischer Bands und in Fanzines fanden sich zum Teil bereits lange vor der Aufdeckung des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ Bezugnahmen auf die Terroristen und ihre Taten. Erst die gerichtliche Aufarbeitung der Morde im Zuge des Prozesses gegen die Hauptverdächtige Beate Zschäpe, der für Anfang 2013 erwartet wird, und die weitere Arbeit des parlamentarischen Untersuchungsausschusses unter der Leitung des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy werden helfen, das Puzzle weiter zu einem Gesamtbild zusammenzufügen und das zerstörte Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen.

Die Opfer hatten Namen

Bis dahin bleibt das Wichtigste, was Demokraten an einem Tag wie diesem ersten Jahrestag tun können, die Erinnerung an die Menschen wach zu halten, die der schwersten rechtsextremistischen Terrorserie seit der Wiedervereinigung zum Opfer gefallen waren:

Enver Şimşek (9. 11.2000, Nürnberg)
Abdurrahim Özüdoğru (13.6.2001, Nürnberg)
Süleyman Taşköprü (27. 6.2001, Hamburg)
Habil Kılıç (29.8.2001, München)
Mehmet Turgut (25.2.2004, Rostock)
İsmail Yaşar (9.6.2005, Nürnberg)
Theodoros Boulgarides (15.6.2005, München)
Mehmet Kubaşık (4.4.2006, Dortmund)
Halit Yozgat (6.4.2006, Kassel)
Michèle Kiesewetter (25.4.2007, Heilbronn)