Connect with us

Gesellschaft

In der islamischen Welt wird der Tod gepriesen, nicht das Leben – wieso?

Spread the love

In der islamischen Welt herrscht ein falsches Verständnis vom Tod, meint der Theologe und Schriftsteller Ahmet Kurucan. Der Verherrlichung des Todes müsse eine Wertschätzung des Lebens entgegengesetzt werden.

Published

on

Spread the love

Sich etwas über das normale Maß hinaus zu wünschen, nennt der türkische Volksmund „furya“, zu deutsch „Flut“. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen wäre: Es war das Jahr 1985 und der Beginn der schönsten Tage meines Lebens. Ich nahm Privatunterricht bei Fethullah Gülen. In der Gemeinde gab es eine „furya“. Viele Menschen baten den Hocaefendi (Ehrenbezeichnung für muslimische Prediger, Anm. d. Red.) um Bittgebete. Manche hatten ganz persönliche Wünsche, wie z.B. die Genesung von einer Krankheit. Aber die meisten wünschten sich einen Märtyrertod. Das ist das, was ich am Anfang als „furya“ bezeichnet habe. Viele wollten für die „Sache des Islam“ als Märtyrer den Tod empfangen, so wie es sich die Weggefährten des Propheten wünschten.

Folgende Sätze von Hocaefendi werde ich nie vergessen: „Wir brauchen keine Menschen, die für die Sache des Islam sterben, sondern welche, die leben und andere zum Leben einladen. Wenn all diese Menschen sich wahrlich und aufrichtig den Märtyrertod wünschen, dann werden sie von Gott auch als solche belohnt – auch wenn sie in ihren Betten sterben sollten. Deswegen bete ich in diesen Fällen dafür, dass sie ein beständiges Leben in Treue zu islamischen Prinzipien führen mögen.“

Eigentlich hat der Tod ein kaltes Gesicht

Der Tod ist ein natürlicher Teil des Lebens. Er ist eine unvermeidbare Realität, der jeder von uns eines Tages ins Gesicht schauen muss. Manch einer wird Wohlgefallen daran finden, andere wiederum dabei Schmerz und Leid empfinden. Ob wir dabei Freude oder Leid empfinden, hängt davon ab, wie wir unser irdisches Leben führen. Eigentlich hat der Tod ein kaltes Gesicht. Aber nicht für diejenigen, die das Leben als eine Ganzheit zwischen dem Dies- und Jenseits betrachten und den Tod als einen Übergang vom einen ins andere Zimmer wahrnehmen. Für diejenigen, die den Tod als eine Zusammenkunft mit den Geliebten sehen, hat er auf keinen Fall ein kaltes Gesicht. Der Blick eines Menschen auf den Tod ist eng mit der Glaubensstärke verbunden.

Wie ist dann der Einwand von Gülen zu verstehen?

Er stellt etwas richtig, das falsch verstanden wird. Der Märtyrertod ist eine Form des Todes. Was er sagt, hat hingegen nichts mit dem Märtyrertod an sich, sondern mit dem Tod als solchem zu tun. Er bevorzugt eine lebensbejahende Haltung. Und das nicht nur auf das individuelle Leben einer Person selbst bezogen, sondern auch auf ihre Mitmenschen. Falls etwas gepriesen werden sollte, so ist es nicht der Tod, sondern das Leben – sowohl das eigene als auch das fremde. Ist nicht gerade auch dieses Anliegen die Grundbotschaft des Islam? Will der Islam, dass die Menschen, die an ihn glauben, sterben oder will er, dass sie im Rahmen der Gebote ein glückliches Leben führen?

Türkei und Saudi-Arabien: Zwei Länder, ein Erklärungsmuster

Aus zwei aktuellen Gründen beschäftige ich mich erneut mit diesem Thema. Der erste Grund ist der Kran-Unfall und die von der Massenpanik ausgelöste Katastrophe in Mekka und die Stellungnahmen danach. Die Katastrophe ähnelt bei genauem Hinsehen mehr einem Massaker als an einem unvermeidbaren Unfall. Nach offiziellen Angaben sind bei den beiden tragischen Ereignissen etwa 1.000 Menschen umgekommen. Die Zahl der Verletzen liegt bei einem Vielfachen dessen.

Es handelt sich um 1.000 Einzelschicksale. Gläubige, die aufgebrochen sind, um der religiösen Pilgerfahrt nachzukommen. 1.000 Menschen, die nicht wieder zurück zu ihren Liebsten kehren werden. Weltweit 1.000 Familien, in der der Schmerz des Todes entbrannt ist.

Und wieso?

Wegen Mängeln an Organisation und Fehlern im System. Unvollendete Infrastruktur. Betreuer, die schlecht ausgebildet sind, und nicht zuletzt das kulturelle Niveau der Pilgernden selbst. Es fehlt das Mindestmaß an Standards, um einen menschenwürdigen Ablauf der Pilgerfahrt zu gewährleisten. Hinzu kommt, dass sich die Gläubigen nicht reinen Herzens auf die Erfüllung ihrer wichtigen religiösen Pflicht konzentrieren können, weil ihnen oft die angemessene spirituelle Einstellung oder die notwendige Vorbereitung fehlt.

Versäumnisse dürfen nicht religiös legitimiert werden

Und dann hört man noch folgende Stellungnahmen: „Das war Gottes Bestimmung, das ist Schicksal, und die Ereignisse haben ja in den heiligen Städten stattgefunden. Jeder wünscht sich doch einen Märtyrertod in den heiligen Städten, um dort begraben zu werden.“

Zweifelsohne glauben wir an die Vorherbestimmung und an das Schicksal eines jeden einzelnen. Ja, auch zeigt sich in solchen tragischen Ereignissen die göttliche Herrschaft. Aber was ist mit der Ursachenforschung? Warum machen wir es uns so einfach? Warum wird der Tod so schnell gepriesen und der Märtyrertod direkt in den Vordergrund gestellt? Wir flüchten in diese theologischen Erklärungsmuster, um die Menschen zu beschwichtigen, sie zu trösten und ihren Protest einzudämmen.

Entspricht das dem Vorbild unseres Propheten?

Zu Zeiten des Propheten hat man alle diplomatischen Wege ausgeschöpft, um einen Krieg zu verhindern. Es wurde bis zum letzten Moment verhandelt. Wenn ein Krieg dann aber unvermeidbar war, so wurde mit dem Ziel zu siegen in den Kampf gezogen, nicht um zu sterben. Alle denkbaren Maßnahmen wurden getroffen, um im Krieg nicht zu fallen, sondern ihn lebendig zu überstehen. Es gab keinen Weggefährten des Propheten, der mit der Absicht zu sterben in den Krieg gezogen ist.

Folgende Haltungen sollten nicht verwechselt werden: Es ist das Eine, alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um nicht leichtfertig zu sterben, aber etwas völlig Anderes, dem Tod lächelnd entgegenzutreten, wenn er unvermeidbar ist. Falls es etwas gibt, was es zu huldigen und zu schützen gilt, dann ist es das eigene und das Leben von anderen.

Zweitens; kurz nach den Parlamentswahlen vom 7. Juli 2015 begannen in der Türkei Terroranschläge, bei denen viele Staatsbedienstete umgekommen sind. Die türkischen Verantwortlichen haben die Terroropfer mit denselben rhetorischen Argumentationsmustern entschuldigt, wie die saudischen Verantwortlichen nach den Katastrophen von Mekka. Fast alle sprechen vom Märtyrertum und preisen den Tod. Bei den Kondolenztelefongesprächen hört man denselben Refrain. Die Folge ist, dass die trauernden Verwandten der Opfer berechtigterweise gereizt reagieren und sagen „Es reicht!“ Sie sind es schließlich, die ihre Liebsten verloren haben.

Es ist die Aufgabe des Staates und seiner Politiker das Leben der Bürger zu schützen und alle Menschen auf seinem Territorium vor dem Tod zu bewahren. Dass gerade diese Verantwortlichen nach jedem Todesfall Ansprachen halten, in denen Sie den Tod lobpreisen und das Leben geringschätzen, stößt auf Widerstand. Mütter, deren Kinder mangelnden Sicherheitsmaßnahmen zum Opfer gefallen sind, erheben ihre Stimme und zeigen mit dem Finger auf die verantwortlichen Politiker. Sie sagen, dass der Tod nicht ihr Schicksal sei, und – was noch schmerzlicher ist – hinterfragen den Märtyrertod. Etwas Vergleichbares hat es in der Geschichte nicht gegeben.

Die Religion wird ausgehöhlt

Die zwei verschiedenen Situationen in Saudi-Arabien und der Türkei fügen sich zu folgendem Gesamtbild: Egal, ob der Grund Mangel an Kompetenz und Weitsicht oder das Festhalten an der Macht um jeden Preis ist; die Tatsache, dass die Machthaber ihren Aufgaben nicht nachkommen und sich hinter religiöser Rhetorik verstecken, hat zur Folge, dass zunehmend mehr Menschen sagen: „Das ist nicht meine Religion“. Die Religion wird also ausgehöhlt.

In aller Öffentlichkeit werden Fehler begangen – egal mit oder ohne Absicht – und die Folgen werden mit religiösen Begriffen legitimiert. Davon trägt die Religion Schaden und viele wollen dieses Spiel nicht mitspielen. Immer öfter ist zu hören, „die Religion wird missbraucht“, „wenn sie (gemeint sind die Machthaber, Anm. d. Red.) Muslime sind, dann bin ich es nicht“. Und das sind noch die mildesten Aussagen. Es gibt noch härtere, aber weder mein Glaube noch mein Gewissen lässt es zu, sie hier wiederzugeben.

Das Problem ist nicht nur auf Saudi-Arabien oder die Türkei beschränkt. Der erste Gedanke, den man bei einem Blick auf die „islamische Welt“ hat, ist das Bild einer von Blut überfluteten Welt. Der Tod ist allgegenwärtig. Konfessions- und Stammeskriege haben zur Folge, dass Menschen dem Tod jeden Augenblick in die Augen schauen. Muslime, die in drei Quadratmeter kleinen Baracken aus Blech leben, leben im Grunde, um zu sterben. Wenn dann jemand tatsächlich stirbt, wird sein Tod als Märtyrertod gepriesen und das Leben geht weiter, als sei nichts geschehen.

Was für eine Schande!

Es müsste sich vieles ändern. Ob das möglich ist, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der erste Schritt mit einem Sinneswandel eingeleitet werden muss.