Gesellschaft
Wegen mangelnder Nachfrage werden muttersprachliche Angebote abgeschafft
Heute ist Internationaler Tag der Muttersprache. Bis zu 3000 Sprachen sollen vom Verschwinden bedroht sein. Auch bei der türkischstämmigen Jugend sind immer mehr Lücken in der Muttersprache zu finden. Aber es gibt auch Lichtblicke. (Foto: dpa)
Jede zweite der weltweit rund 6000 Sprachen ist nach Einschätzung der UN-Bildungsorganisation UNESCO vom Verschwinden bedroht. Im Schnitt gehe etwa alle zwei Wochen eine Sprache verloren. Auch die 13 in Deutschland noch vorhandenen Minderheiten- und Regionalsprachen sind bedroht – von Jiddisch und Romani bis hin zu Saterländisch, Nordfriesisch und Sorbisch. Der Internationale Tag der Muttersprache soll auf die Bedeutung sprachlicher und kultureller Vielfalt aufmerksam machen und zum Erlernen neuer Sprachen animieren. Der von der UNESCO initiierte Tag wird seit 2000 jährlich am 21. Februar begangen.
„Mit Sorge beobachten wir den zunehmenden Schwund der türkischen Sprache bei Türkeistämmigen in den europäischen Ländern“, sagt Mustafa Yeneroğlu, stellvertretender Vorsitzender der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG).
„In vielen Moscheegemeinden wird islamischer Religionsunterricht auch in der jeweiligen Landessprache angeboten“, betont Yeneroğlu. „Zudem wird mehr denn je die Entwicklung von islamischer Literatur in den europäischen Sprachen gefördert. Aber auch der Erhalt und die Pflege der Muttersprache stehen ganz oben auf der Agenda in Form von muttersprachlichem Religions- sowie Ergänzungsunterricht oder türkischsprachigen Publikationen für verschiedene Alters- und Interessengruppen. Das soll mit dazu beitragen, dass Türkisch nicht aus dem Alltag der Menschen verschwindet, sondern als starker Mittler von Kultur und Bildung zur Verfügung steht”, so Yeneroğlu.
Muttersprache zu Hause und Deutsch in der Schule
Die Idee, dass Einwandererfamilien mit ihren Kindern zu Hause Deutsch sprechen sollten, ist von Wissenschaftlern bereits längst widerlegt worden. Die Wissenschaft hat nämlich das Gegenteil bewiesen, so Dr. Insa Gülzow vom Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft: „Wenn Einwanderer mit ihren Kindern Deutsch anstelle ihrer Herkunftssprache sprechen, verschlechtert sich die Herkunftssprache bei den Kindern, ohne dass sich die Deutschkenntnisse verbessern.“ Das belege eine Studie mit russischsprachigen Kindern, durchgeführt am Zentrum für Allgemeine Sprachwissenschaft (ZAS) in Berlin. Außerdem könne eine schlechte Kenntnis der Herkunftssprache bei den Kindern langfristig zu Identitäts- und Beziehungsproblemen in der Familie führen.
Dr. Gülzow empfiehlt eine völlig andere Herangehensweise: „Für Kinder ist es wichtig, dass sie möglichst früh eine qualitativ und quantitativ hochwertige sprachliche Umgebung haben. Dieses Ziel lässt sich am besten dadurch erreichen, dass die Eltern in der Muttersprache und die Erzieher auf Deutsch mit den Kindern sprechen. Der regelmäßige Besuch einer Kindertageseinrichtung ist besonders wichtig, um genügend sprachlichen Input im Deutschen sicherzustellen”.
Mittlerweile ist sogar das Gegenteil des Idealfalls zu beobachten: Immer weniger türkischstämmige Kinder, welche in Deutschland aufgewachsen sind, verfügen über gute bis sehr gute Türkischkenntnisse.
Die zweifache Mutter Hilal Akdeniz ist gebürtige Türkin. Zu Hause spricht sie mit ihren Kindern nur Türkisch. „Die ältere Tochter spricht bereits Deutsch, weil sie in die Kita geht, die jüngere noch nicht wirklich. Ich regle das wirklich so, dass die Ältere auch darauf achtet, dass unsere Familiensprache Türkisch ist. Ich wurde oft deswegen kritisiert, wieso ich denn nicht bilingual an die Sache herangehe, und wie ich das meinem Kind antun könne, denn ich würde ja so exzellent Deutsch sprechen. Sie konnte in der Tat nur ‚ja-nein‘ und ‚Pipi‘ sagen, als sie in die Kita kam. Nun sind zwei Jahre vergangen und ich habe erst gestern vom Schularzt bestätigt bekommen, dass man selten Kinder dort sieht, auch bei den Deutschen, die solch einen guten Wortschatz haben und sich so gut ausdrücken können. Es hat sich bestätigt, dass jedes Kind zunächst ein sehr gutes muttersprachliches Fundament benötigt und darauf dann x Fremdsprachen aufbauen kann. Wir haben uns als Eltern gedacht, dass sie im Leben noch sehr viel Gelegenheit haben wird, Deutsch zu sprechen und dass ihr Alltag irgendwann nicht mehr zulassen wird, genügend Türkisch anwenden zu können, denn es gibt immer weniger Kinder, die ihre Muttersprache wirklich können.“
Mehr Sprachen – mehr Nutzen für die Gesellschaft
Aus diesem Grund startete die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) nun die Initiative „Mein Türkisch, meine Muttersprache, meine Zukunft”, die von zahlreichen türkeistämmigen Nichtregierungsorganisationen (NGO) getragen wird. Ziel dieser Initiative ist es unter anderem, die Zusammenarbeit der NGOs auf diesem Gebiet zu koordinieren und Projekte zur Förderung der Muttersprache durchzuführen. Auch die Türkische Gemeinde zu Berlin e.V. erklärte das 2014 zum „Türkisch-Jahr – Wir sprechen türkisch”.
Allerdings erreichen die IGMG Beschwerden darüber, dass da, wo Türkischunterricht angeboten wird, der Stundenplan parallel zu anderen wichtigen Unterrichtstunden verhindern würde, dass interessierte Schüler daran teilnehmen können oder das Angebot aufgrund mangelnder Nachfrage abgeschafft würde, was ein großer Verlust sei. Hier müsse sich die türkische Community auch selbst hinterfragen, wie sehr die Möglichkeiten und Angebote, die es gibt, wahrnimmt.
Türkische Community gefordert
Rafet Öztürk, Sprecher des „Koordinierungsrats für die Pflege und Zukunft der türkischen Muttersprache” (Türkçem-Anadilim-Geleceğim; kurz: TAG), appelliert daher auch an die türkisch sprechenden Menschen, sich mehr für den Erhalt der Muttersprache einzusetzen: „Je mehr Sprachen ein Mensch beherrscht, desto mehr kann er der Gesellschaft und sich selbst nützen. So wie es im Ausland deutsche Sprachkurse, Kultur- und Sprachinstitute gibt, ist es auch für Deutschland ein Gewinn, wenn die Menschen hier fähig sind, mehrere Sprachen gleichzeitig auf hohem Niveau zu sprechen.“
Ähnlich argumentiert auch Staatsministerin Aydan Özoğuz (SPD), die sich gleichzeitig auch mehr Entgegenkommen von der deutschen Bevölkerung wünscht: „Wer mehrere Sprachen gut beherrscht, ist heutzutage klar im Vorteil. Dies gilt insbesondere für junge Menschen, die ins Berufsleben starten. Mehrsprachigkeit bedeutet ein großes Plus ihrer Kompetenzen und erhöht ihre Erfolgschancen beim Einstieg in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt. Leider wird dieses große Potenzial der Mehrsprachigkeit in der globalisierten Welt noch nicht von allen in unserer Gesellschaft erkannt.“
Mehrsprachigkeit intensiver als Gewinn zu verstehen, sei auch ein wichtiges Signal an die vielen Zuwanderer, die sich mit ihrem Wissen und ihrem Know-how in Deutschland einbringen wollen, so Özoğuz. Die Botschaft an sie laute: „Sie sind mit ihren Kompetenzen und ihrer Muttersprache bei uns willkommen. Selbstverständlich ist für die gesellschaftliche Teilhabe und den beruflichen Erfolg in unserem Land der Erwerb der deutschen Sprache eine zwingende Voraussetzung. Zu einer echten Willkommenskultur gehört es jedoch, Mehrsprachigkeit aktiv zu unterstützen.“ (dtj/dpa)
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