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Wirtschaft

Große Besorgnis, keine Flucht

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Deutsche Unternehmen setzen auf die Türkei und halten an ihrem langfristigen Engagement fest. Die türkische Regierung ist nun gefragt strukturelle Reformen zu stemmen und Vertrauen wiederherzustellen. (Foto: aygueloezkan.de)

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Deutsche Unternehmen setzen auf die Türkei und halten an ihrem langfristigen Engagement fest. Die türkische Regierung ist nun gefragt strukturelle Reformen zu stemmen und Vertrauen wiederherzustellen.
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GASTBEITRAG Die türkische Wirtschaftsentwicklung ist zuletzt unter erheblichen Druck von innen wie von außen geraten. Ein wachstumshemmender Mix aus innenpolitischen Verwerfungen und erheblicher Kapitalflucht hat die Wirtschaft ausgebremst und strukturelle Schwächen im ehemaligen „Wirtschaftswunderland“ offenbart. Und dennoch: Deutsche Unternehmen setzen auf die Türkei und halten an ihrem langfristigen Engagement fest. Die türkische Regierung ist nun gefragt strukturelle Reformen zu stemmen und Vertrauen wiederherzustellen. Und das mitten im Dauerwahlkampf.

Die Kommunalwahlen haben gerade erst die regierende AKP als stärkste politische Kraft bestätigt. Die ersten Direktwahlen des türkischen Präsidenten sowie die Parlamentswahlen stehen bevor. Der Dauerwahlkampf ist von innenpolitischen Auseinandersetzungen begleitetet: Gezi-Park-Proteste, Korruptionsvorwürfe und der offene Machtkampf zwischen dem Premierminister und dem islamischen Prediger Gülen haben den Wahlkampf geprägt. Das Vorgehen gegen den Justizapparat, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit durch Druck auf die Medien und die Zensur des Internets lasten schwer und haben zu Besorgnis in der internationalen Geschäftswelt geführt.

Hinzu kommt die Belastung der türkischen Wirtschaft durch eine massive Kapitalflucht aus den Schwellenländern, bedingt durch einen Kurswechsel in der Geldpolitik der US-Notenbank. Vor diesem Hintergrund steht die türkische Lira vor einem massiven Abwertungsdruck. Mit einer drastischen Zinserhöhung musste sich die türkische Notenbank gegen den Kursverfall stemmen. Durch die schwache Lira wurden die in Fremdwährung notierten Schulden teurer. Damit verbunden ist auch eine höhere Volatilität der Lira, die es den türkischen Unternehmen schwerer macht, ihre Geschäfte mit dem Ausland zu tätigen. Das hemmt die wirtschaftliche Aktivität.

Die Türkei braucht weiterhin erhebliche reformerische Anstrengungen

Das Wirtschaftswachstum in der Türkei war über Jahre schwindelerregend. Ein Megainfrastrukturprojekt jagt das Nächste. Der Konsumnachholbedarf der Bevölkerung, besonders der jungen Menschen, hat den Import angekurbelt. Die Türken erleben einen „neuen“ Wohlstand. Doch das Wachstum ist überwiegend kreditgetrieben. Die Türkei zählt zu den Ländern mit den höchsten Zuwachsraten bei der Verschuldung. Das kreditgetriebene Wachstum und die bisherigen Kapitalzuflüsse haben zu einer Verschärfung der volkswirtschaftlichen Ungleichgewichte beigetragen. Das Leistungsbilanzdefizit und die hohe Inflationsrate haben in den letzten zehn Jahren bei durchschnittlich 6 bzw. 8 Prozent gelegen. Dazu kommt eine Arbeitslosenquote, die selbst in den Boomjahren nie unter acht Prozent sank. Das deutet auf eine hohe strukturelle Arbeitslosigkeit hin.

Und trotzdem hat sich die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Erdoğan in den vergangenen Jahren nicht mehr durch wirtschaftspolitischen Reformeifer hervorgetan. Von der anfänglichen Kombination von islamisch-konservativen mit liberalen ökonomischen Werten ist nicht mehr viel übrig. Eine zunehmende Einmischung des Staates in ökonomische Entwicklungen führt zu Unsicherheiten bei Investoren. Um den Weg des aufstrebenden Schwellenlandes fortzuführen, braucht die Türkei weiterhin erhebliche reformerische Anstrengungen.

Für den Arbeitsmarkt gilt, dass vor allem Frauen der Einstieg in das Berufsleben schwer fällt. Die Frauenerwerbsquote sinkt stetig und mit 22 Prozent unterbietet sie inzwischen die meisten anderen islamischen Länder. Weder in Europa noch in Zentralasien sind so wenige Frauen berufstätig wie in der Türkei. In den kurdisch geprägten südostanatolischen Provinzen der Türkei, die am stärksten zum Bevölkerungswachstum beitragen, ist die Jugendarbeitslosigkeit besonders hoch.

Deutsche Investoren beobachten die Lage in der Türkei aufmerksam

Im Human Development Report 2013 der UNDP rangiert die Türkei bei der Anzahl der Schul- und Ausbildungsjahre, die Türken im Durchschnitt tatsächlich absolviert haben, wenn sie 25 oder älter sind, mit sechseinhalb Jahren deutlicher im unteren Feld der Länder, verglichen mit 10,4 in Europa und mit anderen schnell wachsenden, von jungen Bevölkerungen getragenen Volkswirtschaften wie Mexiko (8,5) und Südkorea (11,6). Von einer niedrigen Ausgangsbasis aus, hat die Türkei in puncto Bildung viel geschafft, doch der Staat muss bereit sein, noch viel mehr Geld in Bildung und Wissenschaft auszugeben.

Auch die Transparenz bei öffentlichen Ausschreibungen muss, wie die Korruptionsvorwürfe zeigen, dringend erhöht werden. Die Befugnisse der Staatsanwaltschaft bei Korruptionsermittlungen gehören gestärkt und nicht geschwächt. Die Unabhängigkeit der türkischen Justiz ist von großer Bedeutung für die Türkei als Investitionsstandort.

Das gilt auch für deutsche Investoren in der Türkei. Diese beobachten sehr genau die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen haben derweil nicht spürbar gelitten und schon gar nicht ist es zu Fluchtbewegungen von deutschen Unternehmern aus der Türkei gekommen. Vor allem langfristige Engagements werden fortgeführt. Für viele deutsche Unternehmen in der Türkei ist dieser Markt ein wichtiger Baustein innerhalb der außereuropäischen Unternehmensstrategie. Dennoch gibt es Grund zur Sorge, denn vor allem bei türkischen Partnern und Behörden werden anstehende Entscheidungen aufgrund der innenpolitischen Lage nur zögerlich getroffen oder zurückgestellt. Die bereits erwähnte Lira-Schwäche trifft auch deutsche Unternehmen in der Türkei.

Lira-Schwäche trifft auch deutsche Unternehmen in der Türkei

Auch die harte Rhetorik des Ministerpräsidenten gegenüber internationalen Kapitalgebern als „Zinslobby“ und „Verschwörer“ wird mit Unbehagen wahrgenommen und ist keine Werbung für den Investitionsstandort. Einen besonderen Ausschlag wird die Einschätzung zur Unabhängigkeit der Justiz und über die Korruption bei deutschen Unternehmern geben. Sie ist wichtig für die zukünftige Einschätzung des Geschäftsumfelds, für Investitionen und wahrscheinlich auch für die zukünftige Bewertung von Entwicklung und Wachstum.

Die Entwicklungen in der Türkei haben das politische und wirtschaftliche Risiko eines Schwellenlandes in den Fokus der Aufmerksamkeit gelenkt. Um die bestehenden Chancen wieder in Mittelpunkt zu stellen, braucht es sichtbare Anstrengungen der Regierung und einen spürbaren Reformwillen. Ein bunter Mix aus Maßnahmen, der vornehmlich dem Machterhalt dient, wird das gerade erst gelegte Fundament wieder erodieren. Die Türkei lernt nach einem Jahrzehnt des ungebremsten Wachstums nun die Mühen der Ebene kennen. Es kann nicht mehr nur darum gehen, neue Wachstumsrekorde aufzustellen, sondern das Erreichte muss gesichert werden.

Autorininfo: Aygül Özkan ist Vorsitzende der Arbeitsgruppe Deutsch-Türkische Wirtschaftsbeziehungen im Wirtschaftsrat der CDU. Der Wirtschaftsrat ist die Stimme der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland und Europa. Unternehmen und Unternehmern bietet er eine branchenübergreifende Plattform, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im Sinne Ludwig Erhards für Fortschritt und Wettbewerb, Chancen durch Freiheit und Wohlstand durch Leistung mitzugestalten.