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Politik

Entscheidungsschlacht zwischen Kurden und IS um die Lebensader Tall Abyad

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An der syrisch-türkischen Grenze steht eine Schlacht um die strategische Nachschub-Route des IS an: Die Kurden-Miliz YPG rückt auf Tall Abyad vor. Ein Verlust der Stadt würde den IS schwer treffen. Die Haltung Ankaras hingegen wirft Fragen auf.

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An der syrisch-türkischen Grenze könnte sich in den nächsten Wochen die Entscheidung über die Zukunft des IS fallen. Dabei spielen die syrischen Kurden als Gegner eine entscheidende Rolle. Die Haltung Ankaras hingegen wirft Fragen auf. Das Foto zeigt türkische Soldaten in einer Stellung an der syrischen Grenze.
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Der Kampf gegen die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) ist im vollen Gange. Stuart Jones, US-Botschafter im Irak, gab im Januar gegenüber „Al Arabiya“ bekannt, die Luftangriffe der Koalitionsstreitkräfte hätten bis dato 6.000 IS-Kämpfer getötet und ca. 1.000 Fahrzeuge zerstört. Der IS werde langsam zurückgedrängt – so die Botschaft des US-Diplomaten. Doch die Realität sieht anders aus.

Der IS herrscht auch knapp zwei Monate später noch über weite Teile Syriens und des Iraks, darunter auch über die bedeutenden Städte Rakka, Mossul und bis dato auch über die umkämpfte Stadt Tikrit. An den Rändern dieses Gebiets kommt es immer wieder zu schweren Kämpfen und teilweise zu Gebietsverlusten des IS – so etwa um die Stadt Ayn al-Arab/Kobane in Syrien. Doch die wichtigen Machtzentren und Transportwege des IS bleiben weiterhin unter seiner Kontrolle. Diese kontrolliert und verteidigt der IS bislang erfolgreich mit Zehntausenden Kämpfern. Der Generalstabschef der kurdischen Streitkräfte, Fuad Hussein, schätzte die Zahl der IS-Kämpfer auf 200.000 und sagte im November 2014 in einem Interview mit der britischen Zeitung „The Independent on Sunday“: „Ich spreche über hunderttausende Kämpfer, weil sie (der IS) dazu in der Lage sind, junge arabische Männer in dem von ihnen kontrollierten Gebieten zu mobilisieren.“

Die Reihen des IS werden außerdem durch Tausende Freiwillige aus dem Ausland verstärkt. Trotz – oder gerade wegen – den Angriffen der internationalen Koalition bleibt der Strom der ausländischen Kämpfer ungebrochen. Die Schätzungen über die Zahl der ausländischen Kämpfern in den Reihen des IS gehen auseinander, wobei Beobachter teilweise von bis zu 20.000 ausländischen Kämpfern aus insgesamt 90 Ländern, darunter 3.400 Kämpfer aus westlichen Ländern, ausgehen. Den Angaben des Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zufolge kämpfen auch 650 aus Deutschland stammende Personen unter dem schwarzen Banner des IS. Tendenz steigend, so der Minister.

Die Koalition bombt – aber niemand stoppt die IS-Rekruten

Über die Gefahr, die vom IS und von seinen Kämpfern ausgeht, sind sich die meisten Regierungen der Welt einig. In der Frage, welche die Maßnahmen für einen Stopp des Freiwilligen-Stroms in das IS-Territorium ergriffen werden sollten, besteht hingegen kein Konsens.

Nachdem im Feburar aus London die drei Mädchen Shamima Begum (15), Amira Abase (15) und Kadiza Sultana (16) in die Türkei eingereist und anscheinend über den Grenzübergang Akçakale-Tall Abyad nach Syrien gelangt sind, erhöht sich der Druck auf die Türkei. Westliche Beobachter kritisieren Ankara seit langem für seine – aus Sicht der Kritiker – passive Haltung gegenüber der Ein- und Durchreise von IS-Rekruten.

Politiker in Großbritannien forderten jüngst die Stationierung von britischen Polizisten am internationalen Flughafen von Istanbul, um die Einreise potentieller IS-Rekruten aufzuklären und ihre Weiterreise zu verhindern. Der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu schloss ein solches Szenario jedoch entschieden aus und sagte am Mittwoch auf der Internationalen Tourismus-Börse Berlin: „Wir erhöhen unsere (Sicherheits-) Maßnahmen jeden Tag, sowohl an unseren Grenzübergängen als auch an den Flughäfen. (…) Ausländische Kämpfer nutzen jeden erdenklichen Weg, um sich ‚Daesh’ (dem IS; Anmerkung der Redaktion) oder anderen militanten Gruppen anzuschließen.“

Grenzstadt Akçakale: Das Tor zum Kalifat

Çavuşoğlu erwiderte auf die Vorwürfe gegen die Türkei, dass die türkische Regierung seit Januar 2015 ingesamt 1.112 IS-Rekruten in ihre Heimatländer abgeschoben habe. Das Problem bestehe daher vielmehr darin, dass auf Grund mangelnder geheimdienstlicher Zusammenarbeit mit westlichen Staaten der türkischen Regierung „mindestens die Hälfte (der eingereisten IS-Rekruten) unbekannt“ seien.

Einmal in Istanbul gelandet, nutzen die IS-Rekruten verschiedene Routen, um in das vom IS kontrollierte Gebiet zu gegangen: Neben Inlandsflügen – etwa nach Gaziantep – vor allem in der Türkei weit verbreitete Buslinien. Die letzte Station auf türkischem Gebiet ist in den allermeisten Fällen die Grenzstadt Akçakale in der Provinz Şanlıurfa. In der jenseits der Grenze liegenden syrischen Grenzstadt Tall Abyad weht seit Ende Juni 2014 die schwarze Fahne des IS. Von Tall Abyad sind es nur etwa 80 Kilometer bis in die Hauptstadt des vom IS ausgerufenen Kalifats.

Die beiden Journalisten Sharen Khalel und Matthew Vickery der schottischen Sonntagszeitung „Sunday Herald“ veröffentlichten im Oktober 2014 einen erschreckenden Bericht über Akçakale, der das Ausmaß der IS-Präsenz in der türkischen Ortschaft verdeutlicht. Die Journalisten zitierten verängstigte Anwohner aus Akçakale mit den Worten: „Sie sind überall. Sie können dich töten, sie können dich entführen.“

„Die IS-Typen sind hier überall“

„Niemand kann mehr irgendjemandem vertrauen, jeder ist auf der Hut. Nachts wollen die Leute nicht mal mehr aus ihren Häusern gehen. (…) Die IS-Typen sind hier überall“, erklärt ein anderer Bewohner der Stadt die angespannte Situation.

Bei ihrem Aufenthalt in der Grenzstadt seien IS-Kämpfer auf den Straßen und Gassen allgegenwärtig gewesen, so die Journalisten. Die Terroristen würden bei ihrer illegalen Einreise von alten Schmugglernetzwerken in der Gegend profitieren. Vor dem Aufstieg des IS in Syrien hätten diese Netzwerke vor allem Kämpfer der Freien Syrien Armee über die Grenze geschmuggelt. In der Türkei würden die IS-Kämpfer teilweise einfach nur Urlaub machen oder Geschäften unterschiedlicher Natur nachgehen. Teilweise würden sie jedoch auch Missionen des IS ausführen, so Khalel und Vickery. Die 3 privaten Hotels in der Stadt werden dem Bericht zufolge regelmäßig von IS-Kämpfern besucht. Türkische Polizei sei in der Stadt zwar unterwegs, würde aber gegen die Präsenz der IS-Kämpfer nicht aktiv vorgehen. So die Lage vor sechs Monaten, an der sich bis heute nichts geändert hat.

In einem aktuellen Bericht der Zeitung „al-Hayat“ lebten im gegenüber liegenden Tall Abyad in der syrischen Provinz Rakka vor der Machtübernahme des IS sowohl Araber, Kurden als auch Armenier. Nach der Eroberung durch den IS flohen jedoch etliche Bewohner der Stadt. Seitdem beherbergt sie die Neuankömmlinge aus aller Welt, die sich dem IS anschließen wollen. Der deutsche Publizist Jürgen Todenhöfer, der Ende 2014 mehrere Tage im sog. Kalifat des IS unterwegs war, sagte in einem Interview dem Deutschlandfunk: „(Der IS) hat einen Zulauf von europäischen und westlichen Kämpfern von täglich mehreren Hundert. Ich war in einer der Rekrutierungsstellen, einem der vielen Häuser an der Grenze, die neue Kämpfer aufnehmen, und da kamen täglich über 50 begeisterte junge Leute.“

Kurden wollen Tall Abyad erobern – und rücken von Westen vor

Während die internationale Koalition IS-Stellung im Irak und Syrien bombardiert und dort Tausende IS-Kämpfer tötet, strömen also jeden Tag neue Dschihadisten durch Akçakale und Tall Abyad in das sog. Kalifat und füllen die Reihen des IS wieder auf. Der IS kann so selbst verheerende Angriffe kompensieren und die durchlässige Grenze auch dazu nutzen, Kontakt zu seinen entfernteren Provinzen (Wilāyāt), etwa in Libyen, zu halten.

Doch diese wichtige IS-Route gerät in den letzten Tagen langsam aber stetig unter Druck. Denn nachdem ein Bündnis unter Führung der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel, kur YPG) mit Hilfe der Luftunterstützung durch die internationale Koalition die 65 Kilometer weiter westlich liegende Grenzstadt Ayn al-Arab/Kobane eingenommen hat, drängen die kurdischen Kämpfer den IS immer weiter zurück.

Der Leiter der „Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ Rami Abdul-Rahman geht ebenfalls davon aus, dass die „Schlacht nach Kobane Tall Abyad“ sein wird. Kurdische Aktivisten berichteten ebenfalls von Vorstößen der YPG auf Tall Abyad. Mittlerweile steht die YPG knapp 20 Kilometer westlich des Grenzübergang.

Die Schlacht hat bereits begonnen

Das Nachrichtenportal al-Akhbar sprach mit einem arabischen Aktivisten aus Rakka, der die Situation des IS schilderte. Er erklärte, die Schlacht um die Stadt habe bereits begonnen und viele der in der Stadt verbliebenen Bewohner würden nun in die Türkei fliehen. „Tall Abyad is so wichtig für den IS, dass er Tunnel in der Umgebung der Stadt gegraben und Verteidigungsstellungen am Stadtrand errichtet hat.“

In der Nacht von Sonntag auf Montag flog die US-geführte internationale Koalition offenbar drei Luftangriffe auf IS-Stellungen in der Grenzstadt – Schützenhilfe für die heranrückenden kurdischen Bodentruppen. Die Druckwelle der Angriffe, die ersten Berichten zufolge ein Treibstofflager des IS zum Ziel hatte, war auch im benachbarten Akçakale zu spüren und sorgte dort für Panik unter den Anwohnern. Mehrere Fensterscheiben gingen zu Bruch.

Die Eroberung der Grenzstadt ist für die syrischen Kurden auch aus einem anderen Grund von großer strategischer Bedeutung. Anfang März trafen sich mehrere kurdische Politiker in der syrischen Stadt Qamishli, um über das weitere Vorgehen der kurdischen Miliz in Syrien zu beraten. Laut al-Monitor präsentierte Nouri Brimo, Vertreter der kurdischen Partei „PDK-S“, eine Karte von „Rojava“ – der Bezeichnung für die de facto autonomen und durch die YPG kontrollierten Gebiete in Syrien. Auf dieser Karte waren die drei kurdischen Kantone Efrîn, Kobanê und Cizîrê in Syrien geografisch verbunden.

Die Region Tall Abyad befindet sich zwischen den letztgenannten Kantonen. Aus Sicht der syrischen Kurden ist die Vertreibung des IS aus Tall Abyad also zwingend notwendig, damit in Syrien ein zusammenhängendes Gebiet geschaffen werde, welches durch das östliche Kanton Cizîrê mit der nordirakischen Kurdenregion verbunden wäre.

Schlag gegen den IS im Namen des Kurdischen Expansionismus?

Es ist eben dieses militärstrategisches Ziel der syrischen Kurden, welches die langfristige Schwächung des IS gefährdet. Denn ein zusammenhängendes Kurdengebiet in Syrien wird sowohl von der türkischen Regierung, als auch von Teilen der arabischen Bevölkerung in dem betroffenen Gebiet als „aggressiver kurdischer Expansionismus“ gesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass in der Region seit Jahrzehnten Spannungen zwischen der kurdischen und arabischen Bevölkerung bestehen. Diese haben ihren Ursprung teilweise in der Zwangs-Ansiedelung arabischer Stämme in der Region ab den 1960er Jahren und in der repressiven Minderheitenpolitik des Assad-Regimes.

Zwar betonte der Kommandeur der arabischen, mit der YPG verbündeten FSA-Brigade „Liwa Thuwwar al-Raqqa“, Abu Issa, dass nur seine (arabischen) Kämpfer Tall Abyad betreten würden. Doch dieses Versprechen scheint mit Blick auf die strategische Bedeutung der Stadt als unglaubwürdig. Der IS hat bei Offensiven der YPG – etwa auf Tall Hamis vergangene Woche – versucht, innerhalb der arabischen Bevölkerung die Angst vor vermeintlicher Vertreibung und Racheakten durch die Kurden-Miliz zu schüren. Die Reaktionen einiger arabischer Twitter-Nutzer, die eigentlich IS-feindlich sind, lassen erahnen, dass der IS mit dieser Taktik einen empfindlichen Nerv getroffen hat.

Der IS wird auch bei der Schlacht um Tall Abyad versuchen, diese Karte auszuspielen. Dabei wird er auf Grund der strategischen Bedeutung der Stadt alle Register ziehen. Der Ausgang dieses anstehenden Krieges liegt daher sowohl am Vorgehen der YPG als auch an der Reaktion der türkischen Regierung auf die kurdische Offensive auf Tall Abyad. Die Gefahr besteht, dass es dem IS gelingen könnte alte Gräben innerhalb der syrischen Gesellschaft für seine Zwecke zu instrumentalisieren und so den kurdischen Angriff auf seine Lebensader abzuwehren.