Gesellschaft
Islam versus Dschihadismus: „Wir machen Propaganda für den IS“
Welche Rolle spielen die Medien beim Umgang mit dem internationalen Terrorismus? Machen wir alle uns gar unbewusst zu Handlangern des Terrors? Der Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui spricht im Interview über Medien, Radikalisierung und die Rolle des Islam für Terroristen.
Sommerloch-Stimmung kommt in diesem Jahr bislang nicht auf. Zu sehr halten Nachrichten über Terror und Gewalttaten die Menschen in Atem. Der ägyptisch-deutsche Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui befasst sich seit langem mit Terrorismus, unter anderem am Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik. Zudem ist er Gründer der Candid Foundation, die eine wissenschaftlich fundierte Beschäftigung und den Dialog mit dem Islam zum Ziel hat. Im Interview spricht er über Medien, Radikalisierung und Trittbrettfahrer.
Nizza oder Würzburg, die Reaktionen auf mutmaßliche Terroranschläge erfolgen immer schneller. Wie schätzen Sie das ein?
El Difraoui: Ich bin entsetzt. Vor allem darüber, dass auch viele Medien sich nicht die Zeit nehmen, Hintergründe zu analysieren, nachzudenken, die Ursachen des Dschihadismus zu beleuchten. Wir sind in die IS-Medienfalle getappt. Die Debatte führt immer weiter weg von den eigentlichen Problemen. In Frankreich wird sie für den Wahlkampf ausgeschlachtet – mit völlig unverantwortlichen Argumenten. Die meisten Menschen wissen nicht einmal, was Dschihadismus ist.
Wie kann man das kurz zusammenfassen?
Dschihadismus ist ein Begriff aus den westlichen Sozialwissenschaften, vermutlich in Frankreich geprägt. Er bezeichnet ein Phänomen, das mittlerweile kaum noch etwas mit dem Islam zu tun hat und das als asymmetrischer Krieg das Konzept des Dschihad verfälscht. Dschihad meint eigentlich die „Anstrengung auf dem Wege Gottes“. Beim Dschihadismus handelt es sich um eine falsche Heilslehre: Spreng dich in die Luft und du kommst als VIP ins Paradies. All das wird zu wenig erklärt; nach jedem Anschlag beginnen die Debatten aufs Neue.
Wo sehen Sie die Ursachen für die zunehmende Radikalisierung?
Die katastrophale sozioökonomische Lage bei unseren südlichen Mittelmeer-Nachbarn, an der wir eine Mitschuld tragen. Auch wurden Diktaturen zu lange unterstützt, etwa das Assad-Regime, und gegen den IS wird ebenfalls nicht militärisch vorgegangen – das ist für die Terroristen ein gutes Propaganda-Instrument. Zudem bekommen wir aus dem südlichen Mittelmeerraum nur noch Bilder zu sehen, die uns Angst machen, von Zerstörung, IS, Flüchtlingen. Wir nehmen unsere Nachbarn nicht mehr als Nachbarn wahr. Dabei verbindet uns mehr mit diesen Menschen, als uns trennt. Wo bleiben Berichte über syrische Künstler, ägyptische Filmemacher, die Zivilgesellschaft in diesenLändern? Stattdessen machen wir Propaganda für den „Islamischen Staat“ (IS).
Und innerhalb der deutschen Gesellschaft?
Hier fühlen sich manche jungen Menschen ausgeschlossen. Warum erreichen wir sie nicht mit all unseren Idealen, die eigentlich da sind? Die Ideale Europas beispielsweise werden schlecht kommuniziert. Warum können wir nicht vermitteln, dass man hier besser lebt als anderswo auf der Welt, ob Muslim oder nicht? Natürlich spielen auch psychologische Ursachen eine Rolle. Die Medien haben den Nährboden geschaffen, damit Psychopathen die verlogene Heilslehre des IS glauben. Diese Lügen wären nicht so groß, wenn die Terroristen nicht so viel Platz bekämen. Anstelle der Hysterie bräuchte es eine sachliche Debatte darüber, was schief läuft.
Die frühere Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch, hat ein Frühwarnsystem für Radikalisierung gefordert. Ist das vorstellbar?
Die Frage ist, was die Kriterien für Radikalisierung sind. Sie ist schwierig festzustellen. Oberflächliche Kriterien festzuschreiben, wirkt schnell stigmatisierend. Vielmehr muss der Radikalisierung der Nährboden entzogen werden; es gibt ja auch Versuche etwa mit entsprechenden Hotlines. Aber ein Frühwarnsystem, wie soll das gehen? Die Terroristen lassen sich keine Bärte mehr wachsen. Was wusste denn der Wahnsinnige von Nizza vom Islam? Und die gläubigen Muslime, die Bärte tragen, haben mit Radikalität in der Regel nichts zu tun. Darüber sollte man mal nachdenken. Zugleich muss die muslimische Welt sich der Debatte stellen. Die deutschen Islamverbände sind bislang zu schwach.
Also wieder die alte Frage, inwiefern Islam und Terrorismus zusammenhängen?
Es gibt zwei Pole: Die einen sagen, der Islam ist Terrorismus – die anderen sagen, der Islam ist Frieden. Die entscheidende Frage lautet, was im Islam steckt, das für Terror genutzt werden kann. Zum Teil begründet sich der Terror auf der Fehlinterpretation einzelner Suren, auf einer Zerstückelung des Islam. Wir brauchen eine Debatte über die Auslegung und über den Salafismus – in diesem Punkt sind die Waffendeals mit Saudi Arabien wiederum inkonsequent, denn dort sind salafistische Strömungen sehr stark. Wir machen nur eine Pflasterbehandlung und gehen den Ursachen nicht auf den Grund.
Aktuell geht es auch um Trittbrettfahrer: Jeder kann sich eine Axt nehmen, sobald er eine IS-Fahne besitzt, bekennt sich die Miliz. Wie schätzen Sie diese Debatte ein?
Auch das machen wir erst durch die enorme mediale Aufmerksamkeit möglich. Wir dürfen uns nicht hochschaukeln lassen, sondern müssen uns auf unsere Werte besinnen – unsere Gesellschaft ist faul in dieser Hinsicht geworden. Ich bin sehr kritisch gegenüber den Kirchen eingestellt, aber die Arbeit der Kirchen richtet sich oftmals gegen Hedonismus und die Konsumgesellschaft. Die Terroristen aus Europa wollen in dieser Gesellschaft irgendetwas werden, egal was, und lassen sich vom IS verführen. Diese Jungs werden nicht zu Muslimen, sondern zu Dschihadisten – weil sie gar nicht wissen, was muslimische Spiritualität ist. Insofern ist es wichtig, sich auch spirituell dagegen aufzulehnen. (kna/dtj)