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Politik

Brauchen muslimische Jugendliche islamischen Religionsunterricht?

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Dass es an immer mehr öffentlichen Schulen künftig islamischen Religionsunterricht geben wird, ist ein Zeichen für islamische Normalität in Deutschland. Andererseits gibt es aber auch einige Bedenken hinsichtlich seiner Konzeption. (Foto: zaman)

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Brauchen muslimische Jugendliche islamischen Religionsunterricht?
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Muslime sind in Deutschland nicht nur angekommen, sondern fühlen sich auch heimisch. Die Mitmenschen, die Kultur, die Bildung und die Erziehung prägen sie tagtäglich. Muslimische Eltern bemühen sich, ihre Kinder in dieser vielfältigen Gesellschaft religiös zu erziehen. Nicht nur die Eltern, sondern auch der Staat hat nun den Anfang zu einer islamischen Erziehung gemacht. Doch brauchen die muslimischen Jugendlichen diese Erziehung in einer staatlichen Einrichtung oder reicht die islamische Erziehung im elterlichen Haus und in einer Moschee im Hinterhof?

In unserer kleinen Analyse hier soll die islamische Erziehung im engen Kontext von islamischem Religionsunterricht an staatlichen Schulen verstanden werden. Diese für Muslime in Deutschland neue Form der Religionsvermittlung steht noch vor einer Reihe von Fragen, die letztlich daraus resultieren, dass weder das Erziehungskonzept in Moscheegemeinden noch jenes in den meisten muslimischen Familien eine unmittelbare Übertragbarkeit auf die Schule ermöglichen. Dies hängt nicht nur mit den unterschiedlichen Bildungs- und Erziehungszielen, sondern auch mit den sehr unterschiedlichen Vermittlungsmethoden zusammen. Während der staatliche Unterricht zu kritischer Reflexion und zur Fähigkeit, eigene Meinungen zu bilden, erzieht, tendiert die islamische Erziehung in muslimischen Familien in Deutschland eher auf die Verinnerlichung tradierter Auffassungen von Religion, Werten und Ritualen, auf Auswendiglernen von Koranstellen und auf die Loyalität zur Herkunftsgruppe.

Wer sind die muslimischen Jugendlichen überhaupt?

Für jeden erzieherischen und didaktischen Prozess sind nicht nur die Erziehungsziele bzw. konkreten Inhalte von Lehr- und Erziehungsprozessen von Bedeutung, sondern insbesondere auch die Voraussetzungsstruktur des Erziehers und des zu Erziehenden. Denn Kommunikation findet nicht in einem sterilen Raum objektiver Bedeutungen und unmittelbarer Gedankenübertragung statt, sondern ist stets ein Interpretationsprozess vor dem Hintergrund von bereits Bekanntem. Im Folgenden werden nun einige der Voraussetzungen auf Seiten der zu Erziehenden, in unserem Fall also der muslimischen Jugendlichen analysiert.

Migrationshintergrund und Religiosität

Neuere Hochrechnungen, die erstmals in der Studie „Muslimische Lebenswelten in Deutschland“ vorgestellt wurden, gehen von 3,8 bis 4,3 Millionen Muslimen in Deutschland aus, was ca. 5% der Gesamtbevölkerung in Deutschland entspricht (Haug/Müssig/Stichs 2009; 80). Im Wesentlichen besitzen die Muslime in Deutschland einen Migrationshintergrund, wobei die größte Herkunftsgruppe mit einem Anteil von 63 % aus der Türkei stammt. Ihnen folgen Muslime aus Südosteuropa (14 %), dem Nahen Osten (8 %), Nordafrika (7 %) und Süd- bzw. Südostasien (4 %).

Insofern ist Vorsicht bei der Verwendung des Begriffs „muslimische Jugendliche“ geboten, da diese Pauschalisierung ausblendet, dass die Wurzeln dieser Gruppe in den unterschiedlichsten europäischen, asiatischen und afrikanischen Kulturen liegen. Noch komplexer wird der Sachverhalt, wenn man das familiäre Milieu nach folgenden Faktoren zerlegt: Schichtzugehörigkeit, sozioökonomischer Status, Bildungshintergrund, ländliche oder städtische Herkunftsregion, Rechtsschule, Religiosität etc. Insgesamt kann aber von einer großen Rolle der Religion ausgegangen werden. So ermittelte die repräsentative Studie „Religionsmonitor 2008“ der Bertelsmann Stiftung, dass 90% der Muslime in Deutschland über 18 Jahren religiös seien (Gesamtbevölkerung: 70 %). 41% werden zu den Hochreligiösen gezählt, was bedeutet, dass Religion in ihrem Leben nicht nur punktuell auftaucht, sondern die gesamte Persönlichkeit und Denkweise prägt (Gesamtbevölkerung: 18 %) (Rieger et al. 2008; 6-8). Hinsicht der religiösen Praxis ist festzustellen, dass Muslime unterschiedliche Riten unterschiedlich häufig praktizieren, und dass gerade das Fasten im Ramadan und die Armensteuer besonders häufig auftreten.

Säkular-humanistische Prägung der Mehrheitsgesellschaft

Das gesellschaftliche Milieu, in dem muslimische Jugendliche allein während ihrer Schulzeit schon mindestens 15 000 Stunden verbringen, ist im Wesentlichen das der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Einige markante Besonderheiten dieser Gesellschaft, die nicht selten im Kontrast zum muslimischen Herkunftsmilieu stehen, sollen hier stichwortartig aufgezählt werden:

• Ermunterung zu Hinterfragung und Kritik: Nicht Gehorsam und Loyalität gegenüber Familie und Autoritäten, sondern Emanzipation von Autoritäten und die Erziehung zu Selbstständigkeit und Mündigkeit stellen die wichtigsten Eckpfeiler der Werteordnung dar, die das deutsche Bildungssystem ihren Schülerinnen und Schülern vermitteln will – zumindest solange sich die autoritätskritischen Emanzipationsbemühungen nicht gegen die säkular-humanistischen Vorstellungen der Mehrheit richten.

• Anerkennung durch individuelle Leistungen: Es ist weniger die offen bekundete Zugehörigkeit und Treue gegenüber einer politischen, religiösen oder ethnischen Gruppe, die Anerkennung durch die Gesellschaft bringt, sondern die individuelle Leistung, die jemand in seinem Beruf oder seiner sozialen Position erbringt – oder zumindest die Art und Weise, wie jemand diese zu „verkaufen“ in der Lage ist.

• Negatives Bild vom Islam: Neben der generellen Skepsis gegenüber Religion, die in Europa teils durch die Erfahrungen in den Konfessionskriegen und mit der Machtpolitik der historischen katholische Kirche bedingt ist, teils durch ideologische Restbestände antireligiöser, totalitärer Ideologien der Moderne, kommen noch starke Vorbehalte gegenüber dem Islam hinzu. Unabhängig davon, ob dies allein aus Unwissen oder aus Vorurteilen resultiert, spielt dies für das Identifikationsgefühl vieler muslimischer Jugendlicher mit Deutschland eine negative Rolle. Islamische Erziehung muss sich auch mit diesem Aspekt kritisch auseinandersetzen, um den Jugendlichen konstruktive Reflexionsmöglichkeiten hierzu auf verschiedensten Ebenen anzubieten.

Abschließend sei angemerkt, dass dieser kulturelle Rahmen nicht nur an der Schule, sondern auch über die Medien, Musik und den Freundeskreis vermittelt wird. Darum führt kein Weg an einer systematischen Auseinandersetzung mit diesen Aspekten vorbei.

Lamya Kaddors islampädagogisches Konzept

In der neueren Literatur zur islamischen Religionspädagogik findet sich eine Reihe von Versuchen, den hier dargestellten Lebenswirklichkeiten muslimischer Jugendliche in Deutschland gerecht zu werden. Von diesen sollen hier einige kurz vorgestellt und diskutiert werden. Die Religionspädagogin Lamya Kaddor meint in ihrem Buch „Muslimisch-weiblich-deutsch! Mein Weg zu einem zeitgenössischen Islam“, die muslimische Identität des Kindes sei zu stärken und dies ginge nur, wenn das Kind lerne, zu hinterfragen, zu kritisieren und zu reflektieren (Kaddor 2010:152-157). Und diese drei Punkte sollten im islamischen Religionsunterricht gelernt werden.

Im Buch spricht sie häufig vom Hinterfragen im Islam. Sie meint, dass das Problem vieler konservativer Kreise in einer Ablehnung des Hinterfragens liegt. Aber sie weist auch darauf hin, dass mit einem solchen Hinterfragen keine Kritik an Gott oder seiner Offenbarung gemeint ist. Kritisch hinterfragen bedeute demnach nicht eine Ablehnung, sondern eine Analyse der Sache, also die aktive Beschäftigung mit Gottesthemen, die über ein Memorieren hinausgehe.

Kaddor zufolge lernen Menschen nur dann etwas dazu, wenn sie Fragen stellen und sich auch kritischen Fragen mutig stellen. Dies sei ein wichtiger Weg, den Glauben zu stärken. Kaddor selbst habe in ihrer Kindheit keine Antwort auf bestimmte Fragen bekommen und deshalb ihren Glauben an diese Dinge damals nicht in vollem Umfang festigen können. Folgerichtig geht es ihr darum, Jugendliche so zu erziehen, dass
sie auf alle wichtigen Fragen eine Antwort parat haben, sich zudem ihrer muslimischen Identität bewusst sind und sich nicht in jeder Frage auf Gelehrte berufen müssen.

Zur Frage, was guter Islamischer Religionsunterricht sei, schreibt sie, dass sein Ziel die Vermittlung eines zeitgemäßen, offenen und transparenten Islams sein müsse, wobei die Erziehung zur religiösen Mündigkeit im Vordergrund stehen solle (Kaddor 2010; 155-157). Ihr Konzept kann wie folgt aufgelistet werden:

Schüler
– brauchen demnach Aufklärung über die Entstehungsgeschichte des Korans, der Hadithe, und der übrigen Rechtsquellen,

– sollen auf altersgemäße Weise die historische Leseart des Korans begreifen können,

– müssen lernen, kritische Fragen zu stellen und ihr Leben selbstbestimmt zu führen,

– sollen verstehen, dass es Imame, Gelehrte und Eltern gibt, die all das nicht wollen, weil sie die Deutungshoheit und damit die Macht über die Menschen behalten wollen,

– müssen lernen, ihre Religion auf Deutsch zu erklären, weil nur so Aufklärung betrieben werden kann, sowohl in Richtung der muslimischen als auch der nicht-muslimischen Gesellschaft.

Aus der Sicht des Schülers kann man dies laut Kaddor in folgenden Lernzielen zusammenfassen:

– Ich lerne die Grundüberzeugung meiner Religion nach einem weitgehend neutralen (weil staatlich genehmigten) Lehrplan kennen und erlange theologisches Wissen,

– Ich lerne nicht nur die rituellen Praktiken und Dogmen meiner Religion kennen, wie es – ähnlich dem christlichen Konfirmandenunterricht- in vielen Koranschulen geschieht,

– Ich lerne durch das erlangte Wissen über meine eigene Religion auch die Religion anderer Menschen besser kennen,

– Ich lerne mit meinen muslimischen Glaubensüberzeugungen in der modernen Welt zu leben, ohne in innere Konflikte zu geraten,

– Ich lerne, religiöse Belehrungen von Erwachsenen und vermeintlichen Experten kritisch zu hinterfragen,

– Ich lerne mit Anfeindungen, Pauschalisierungen, Vorurteilen gegenüber meiner Religion umzugehen und ihnen in demokratischer Weise zu begegnen.

Abschlussdiskussion

Insgesamt ist festzustellen, dass viele von Kaddors Punkten in der Tat auf soziokulturelle Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler eingehen, insbesondere, was die Notwendigkeit des Hinterfragens und der aktiven Aneignung von religiösem Wissen anbelangt. Sie möchte den Islam auf eine individuell zugängliche Weise vermitteln und sieht im Religionsunterricht ein passendes Mittel dazu.

Problematisch ist, dass sie mit ihrem Konzept womöglich in Konflikt mit einer anderen soziokulturellen Voraussetzung der Jugendlichen gerät, nämlich einer an einflussreichen Autoritäten orientierten Haltung vieler muslimischer Kreise. Ihr anspruchsvolles Konzept liest sich stellenweise wie eine Kampfansage an sogenannte „autoritäre Erziehungskonzepte“. Aber wenn man bedenkt, dass viele Jugendliche daheim so oder so ähnlich erzogen werden: Führt dies nicht wieder zu einem Wertedualismus bei den Jugendlichen? Während sie in den zwei Stunden Islamunterricht unter anderem das Hinterfragen von als religiösen Autoritäten geltenden Personen einüben, stehen sie daheim oder in ihrer eigenen religiösen Gemeinschaft womöglich wieder genau in diesem Kontext. Abgesehen davon wird gar nicht erst gefragt, ob sich nicht viele Kinder und Jugendliche in diesen familiären und religiösen Gemeinschaften wohl fühlen und deshalb vielleicht gar keinen konfrontativen, antagonistischen Unterricht wünschen.

Insofern müsste man überlegen, wie man Kaddors „individualistisches“ Konzept so erweitern kann, dass der Unterricht die Schülerinnen und Schüler nicht in Konflikt mit ihrem muslimischen Herkunftsmilieu bringt, sondern sie dazu befähigt, sich konstruktiv mit diesem auseinandersetzen. Natürlich kann dies in manchen Fällen auf Spannungen hinauslaufen. Aber andererseits sollte die möglicherweise vorhandene und starke emotionale Bindung an eben diese Kreise nicht unterschätzt werden. Daher sollte das Ziel eine behutsame Reflexion des eigenen Herkunftskontexts beinhalten und nicht so erfolgen, als befände sich der Jugendliche in einem kräftefreien Raum.

Ferner ist die Frage zu stellen, ob Kaddors Kontext die Möglichkeiten des Religionsunterrichts nicht womöglich sogar überschätzt. Eine fundierte Vermittlung von Koranauslegungsfähigkeiten ist sehr wünschenswert. Jedoch würde man den Jugendlichen keinen Gefallen tun, wenn man ihnen den Eindruck vermittelt, dass Koranauslegung eine einfache Sache sei, die in zwei Wochenstunden an der öffentlichen Schule zwischen Mathe-Klassenarbeit und Chemieklausur mal eben mit drein gestreut werden könnte. Auch hier wäre es wünschenswert, exemplarisch zu zeigen, welche Arten von Auslegung es gibt, und wie sich ein interessierter Jugendlicher zwischen klassischen und neuzeitlichen Auslegungsangeboten orientieren kann.