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Gesellschaft

„Islamkritik“ statt Gedenken an Solingen und Rassismus-Opfer

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Die Entscheidung der Anne Will-Redaktion, am Jahrestag des Solingen-Anschlags eine Sendung mit dem Titel „Allahs Krieger im Westen“ auszustrahlen, sorgte für Verwunderung und Enttäuschung. Ein offener Brief an Anne Will. (Foto: screenshot/ARD)

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„Islamkritik“ statt Gedenken an Solingen und Rassismus-Opfer
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Ohne Frage sind derzeit die Anschläge von Boston und London, die mutmaßlich von religiösen Extremisten verübt wurden, ein wichtiges Thema, über das auch im Fernsehen gesprochen werden muss. Doch dass dies gerade an einem so wichtigen Tag wie dem 20. Jahrestag des Solinger Brandanschlags, der einen rechtsradikalen Hintergrund hatte und dem fünf türkische Bürger zum Opfer fielen, in einem öffentlich-rechtlichen Sender und dazu noch mit einem reißerischen Titel gemacht wird, zeugt von fehlender Sensibilität, wenn nicht gar von Ignoranz.

Am Mittwochabend strahlte die ARD die Anne Will-Sendung „Allahs Krieger im Westen – wie gefährlich sind radikale Muslime“ aus. Eingeladen waren u.a. Necla Kelek und Nora Illi, „zwei Musliminnen, welche nicht unterschiedlicher sein könnten“.

Im Internet regte sich vor, während und nach der Sendung zum Teil heftiger Protest gegen die Sendung, der sich in Beleidigungen, Beschuldigungen, Drohungen, aber auch in Ironie und Sarkasmus äußerte. Caroline Neumüller, Islamwissenschaftlerin und deutsche Muslimin, hat einen Offenen Brief verfasst, den sie heute an die Anne Will-Redaktion schicken möchte. Im Folgenden geben wir Passagen des Briefes wieder.

„Sehr geehrte Frau Will,

hiermit werden der Unmut, der Ärger und die Enttäuschung aller MitbürgerInnen, die an einem soliden und freundschaftlichen Miteinander Interesse haben, kundgetan, dass Sie sich dazu entschieden haben, am heutigen Abend Ihre Sendung mit dem Titel „Allahs Krieger im Westen – wie gefährlich sind radikale Muslime“ zu moderieren und auszustrahlen.

Es gibt mehrere Gründe, weshalb dieser Unmut zu Recht geäußert werden muss:

Der wichtigste Grund überhaupt besteht darin, dass absolutes Unverständnis vorherrscht, warum man an solch einem wichtigen Tag wie heute eine solche Sendung ausstrahlt. Wie kann man in seinem „Klappentext“ schreiben, dass zurzeit in Solingen eine Serie von Prozessen gegen deutsche Salafisten läuft, wenn doch gleichzeitig HEUTE der 20. Jahrestag des Mordes an 5 türkischen Frauen und Mädchen (auch in Solingen), welcher aus fremdenfeindlichen und rassistischen Gründen stattfand, ist? In Solingen trauert eine Mutter um ihre fünf Kinder und betet zu Gott, dass Er den Mördern vergibt.

Wäre es nicht eindeutig die Priorität gewesen, sich heute dem Thema ‚Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland’ zu widmen, der Opfer zu gedenken, sich mit den Hinterbliebenen auseinanderzusetzen und sich ihrer zu widmen und ihnen Ihren Respekt und Ihre Achtung zu zollen?

Es fällt schwer die richtigen Worte zu finden ohne ausfallend zu werden, liebe ARD-Redaktion und liebe Frau Will, denn der Eindruck, den Ihr Sender und Ihre Sendung dem Publikum und breiten Masse mit dieser Aktion bietet, lässt darauf schließen, dass Sie sich kaum Gedanken um die Menschen machen, sondern sich nur auf die Einschaltquoten verlassen wollen. […] Vielleicht haben Sie es selbst nie erlebt, aber hier geht es nicht um Macht oder Geld, oder Einschaltquoten, sondern darum Menschlichkeit, Interesse an seinen MitbürgerInnen (ob mit oder ohne Migrationshintergrund), Nächstenliebe, Nachbarschaft und ein gutes Miteinander zu demonstrieren.

Hiermit käme man zum zweiten Grund des Unmutes:

Wenn man schon zum Thema „Extremer Islamismus“ eine Sendung moderiert und ausstrahlt, sollten dann nicht auch in der Sendung in dem Thema bewanderte, kompetente und respektierte Persönlichkeiten eingeladen werden? […] Wenn man die Gäste des heutigen Abends genauer unter die Lupe nimmt, so wird man sehr schnell feststellen, dass diese sehr selektiv ausgesucht und eingeladen worden sind. Das ist bei diesem Thema leider so üblich, weil man als Fernsehsender mit der Konkurrenz mithalten will und bestimmte Gäste einen „Reiz“ ausüben und für Einschaltquoten sorgen. Dazu kann man aber leider nicht applaudieren, ganz im Gegenteil.

Es sind immer wieder die gleichen Gäste, welche eingeladen werden. Viele befürchten (zu Recht), dass dies geschieht, um ein gewisses Bild des Islams bzw. der MuslimInnen in Deutschland zu (re-) präsentieren, was aber ein absoluter Trugschluss ist, denn keine der geladenen Gäste – zumindest in dieser Sendung – repräsentiert die Mehrheit der MuslimInnen in unserem Land:

In diesem Falle handelt es sich insbesondere um Frau Necla Kelek und Frau Nora Illi, zwei Musliminnen welche nicht unterschiedlicher sein könnten:

– Kelek ist bekannt dafür, dass sie den Islam wie auch die MuslimInnen permanent kritisiert. Was genau weiß Kelek eigentlich über ihre eigene Religion? Hat sie sich jemals mit ihr im Guten und in ihrem Inneren auseinandergesetzt oder ist sie – so demonstriert sie es zumindest öffentlich – nur darauf hinaus, Menschen aus ihrem islamischen Umfeld „retten zu wollen“? Als Soziologin kann Kelek schwerlich über theologische Strukturen im Islam referieren, es sei denn sie hat sich wissenschaftlich und religiös damit befasst und könnt diese auch nachweisen. […]

– Illi ist in Deutschland kaum bis gar nicht bekannt. Nora Illi ist nur denen bekannt, die sich mit dem Thema auch außerhalb Deutschlands befassen und auseinandersetzen. Es gibt viele MuslimInnen, welche sie unterstützen, aber ganz konkret formuliert: Warum laden Sie eine muslimische Konvertitin aus der Schweiz ein, welche schon Ende 2012 bei Ihrer Kollegin Frau Maischberger im Niqab auftrat? Der Sinn und Zweck dieser Einladung erschließt sich mir nicht. […] Ihre Kleidung und ihre Glaubenspraxis ist einer traditionellen islamischen Richtung zuzuordnen, welche auf Qur’an und Sunnah basiert. So mancher wird heute denken, dass Frau Illi eine Salafistin ist. Warum? Weil Sie es so eingefädelt haben, dass genau das letztendlich propagiert wird und in den Köpfen der Menschen bestehen bleibt. Ich glaube nicht, dass Frau Illi jener Bezeichnung zugeordnet werden kann, nichtsdestotrotz war und ist es völlig verständnislos für fast jeden, warum gerade sie, die nicht einmal in Deutschland, sondern in der Schweiz wohnt, also mit diesen „deutschen Problem“ nichts zu tun hat, eingeladen wird.

– Zu Joachim Hermann kann nur wenig gesagt werden, denn viele ZuschauerInnen werden ihn nicht kennen, aber es ist vorauszusehen, dass Hermann und Kelek sich eventuell gut verstehen werden.

– Zu Asiem El Difraoui kann auch nicht viel gesagt werden, denn auch dieser ist kaum bekannt. Die meisten ZuschauerInnen werden von ihm nicht gehört haben. Und nicht jeder kann sich als Islam-Experte auszeichnen. Diese Titulierungen sind oft äußerst gewagt, aber vielleicht lassen wir uns eines Besseren belehren.

– Thomas Oppermann ist für einige, die sich für die Politik interessieren und Nachrichten schauen, insoweit bekannt, indem er im Kompetenzteam von Kanzlerkandidat Peer Steinbrück arbeitet. Mehr wissen viele über diesen Mann aber auch nicht. Was kann er zu diesem Thema beitragen, dass man etwas aus der Situation machen oder verbessern kann?

Was den meisten von uns, die sich über diese Situation beschweren, aufs Mindeste sehr unbehagt und auch sehr befremdlich erscheint, ist die Tatsache, dass in Sendungen mit diesen, aber auch ähnlichen Themen, die interkulturelle, die interreligiöse sowie auch die soziale Kompetenz fehlt. Warum werden bei Ihnen keine Persönlichkeiten eingeladen, die einen zeitgemäßen, moderaten oder traditionellen Islam praktizieren, sich aber auch mit der Theologie dessen beschäftigt haben bzw. beschäftigen und in ihrem Thema dazu beitragen können die Situation zu entschärfen und Lösungen zu finden? Es gibt viele kompetente Menschen – IslamwissenschaftlerInnen (muslimisch wie nichtmuslimisch), muslimische TheologInnen, KulturwissenschaftlerInnen, oder einfach engagierte MuslimInnen (traditionell wie progressiv) – die Ihre Sendungen zu diesen Themen eher bereichern würden als die „Stereotypen“. […]

Die Mehrheit der MitbürgerInnen – egal ob muslimisch oder nicht – weiß, wie der Islam/die MuslimInnen von der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft gesehen wird, dass es eine Entwicklung einer Ablehnung des Islams und den MuslimInnen gibt und diese zunimmt.

Sie müssen sich fragen, was Sie mit diesen Themen und insbesondere mit der Besetzung der Gäste in Ihren Sendungen bezwecken wollen:

Wollen Sie bilden oder ein Feindbild schüren und weiter ausbauen?

[…]

Es gibt hierzulande viele intellektuelle MuslimInnen mit und ohne Migrationshintergrund, welche sich hier zuhause fühlen, welche mehr als Ihre derzeitigen (muslimischen) Gäste ein Sprachrohr für die muslimische Gemeinschaft in Deutschland sind bzw. sein können. Diese engagierten Menschen müssen Sie einladen und eine Stimme geben; nicht denen, die Hass schüren, sich muslimfeindlich präsentieren, oder denen, die den Glauben auf puristische Weise leben und damit den Zuschauer in den Glauben bringen, so sei der Islam. So ist er nämlich nicht.

[…]

Letztendlich muss Ihnen klar werden, dass Sie Ihre Einstellungen gegenüber diesen brenzligen Themen sensibilisieren müssen, und das funktioniert nur, indem Sie sich öffnen, kein Feindbild schüren und Gäste einladen, die Lösungen für diese Probleme finden können.

Vielleicht mögen Sie Stellung zu obigen Gründen nehmen. Darüber würden sich die MitbürgerInnen sicherlich freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Caroline Neumüller