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Politik

„Israel hat damals neun Menschen getötet, aber Erdoğan hat die Mavi Marmara endgültig versenkt“

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Israel und die Türkei haben endlich ein Versöhnungsabkommen unterzeichnet. Die Türkei erkennt damit faktisch das Recht Israels an, sich selbst zu verteidigen; Israel erkennt an, dass es überreagiert hat. Doch das Abkommen hat einen bitteren Beigeschmack.

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das türkische Schiff Mavi Marmara
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Das Aussöhnungsabkommen zwischen Israel und der Türkei ist ein richtiger und wichtiger außenpolitischer Schritt. Er erkennt politische Realitäten an, zeugt von schon verloren gegangen geglaubter Kompromissfähigkeit und ist für beide Länder von wirtschaftlichem und politischem Vorteil. Doch stößt er auch bei vielen Beteiligten und Betroffenen auf Unverständnis und Wut. Die türkische Regierung kann anständige Verhandlungsergebnisse vorzeigen; es wurden Kompromisse gefunden, die beiden Seiten zum Vorteil gereichen. Doch rächt sich nun, dass sie durch ihre Großspurigkeit Erwartungen geweckt hat, die sie nicht halten kann, vor allem bei den Beteiligten und Hinterbliebenen.

Ihren Anfang hatte die Krise mit dem sogenannten „Ship-to-Gaza-Zwischenfall“ genommen: Eine Flottille um das Schiff Mavi Marmara hatte Ende Mai 2010 versucht, beladen mit humanitären Hilfsgütern den Gazastreifen anzufahren und damit die israelische Blockade zu durchbrechen. Auf der aus sechs Schiffen bestehenden Flottille waren knapp 700 Aktivisten, davon 587 auf dem Hauptschiff Mavi Marmara: Das ist der Name, unter dem die internationale Aktion unter Federführung der AKP-nahen, türkisch-islamistischen Hilfsorganisation İHH in der Türkei bekannt wurde. Das Schiff wurde laut dem Palmer-Report, einem UN-Bericht vom September 2011, in internationalen Gewässern von israelischen Sicherheitskräften gestürmt. Dabei kamen insgesamt neun Personen ums leben.

Daraufhin begannen gegenseitige Schuldzuweisungen; Israel hatte das Völkerrecht auf seiner Seite, die Türkei die Sympathien im Großteil der muslimischen Welt. Nachdem sich die einst außerordentlich guten Beziehungen beider Länder in den vorangegangenen Jahren bereits kontinuierlich verschlechtert hatten, führte der Zwischenfall zum endgültigen Bruch. Die Botschafter wurden abgezogen, Kooperationen beendet, gegenseitig Sanktionen verhängt.

Nach sechs Jahren schließen die Türkei und Israel nun nach langen Verhandlungen einen Versöhnungsvertrag ab, mit dem sie den Streit beenden, erneut diplomatische Beziehungen aufbauen und die Zusammenarbeit auf allen Gebieten erweitern wollen. Außenpolitik-Experten wie der ehemalige türkische Außenminister Yaşar Yakış begrüßen das Abkommen, doch sowohl von der Opposition als auch von Beteiligten und den Nachkommen der Getöteten hagelt es schwere Kritik für die türkischen Zugeständnisse.

Dabei konnte die Türkei zwei ihrer drei grundlegenden Forderungen durchbringen: Eine Entschuldigung Benjamin Netanyahus wurde bereits vor drei Jahren von US-Präsident Barack Obama vermittelt. Hinzu kommt die verlangte finanzielle Entschädigung, der Israel zugestimmt hat. Dass es sich bei der Entschuldigung nur um ein Telefonat, also kein vorlegbares Schriftstück, gehandelt hat und die Entschädigungszahlung in Höhe von 20 Millionen Dollar nicht an die Hinterbliebenen der Toten, sondern an eine humanitäre Stiftung gehen, sollte da zu verkraften sein. Gleichzeitig scheint die Summe auch ein Verhandlungserfolg der Israelis zu sein: „Wir sind mit astronomischen Zahlen gestartet und dann bei 20 Millionen Dollar angekommen. Die Früchte dieses Abkommens werden Gewinne für Israel schaffen, die diese 20 Millionen bei Weitem überschreiten“, beurteilt der israelische Verhandlungsführer Joseph Chiechenover die Summe.

Die Gaza-Blockade bleibt 

Der dritte Punkt ist den islamistisch-konservativen Kreisen in der und rund um die AKP-Anhängerschaft allerdings schwerer zu verkaufen: Nachdem Erdoğan sich als Beschützer der im Gaza-Streifen lebenden Palästinenser und eng(st)er Verbündeter der Hamas aufgespielt hat, ist das türkische Einknicken bei der Forderung nach einer Aufhebung der Blockade ein wunder Punkt. Noch dazu, weil Erdoğan das lange als Conditio sine qua non für eine Aussöhnung bezeichnet hatte. Wie Cengiz Çandar, einer der renommiertesten türkischen Journalisten und Sicherheitsexperten, berichtet, habe der türkische Verhandlungsführer Feridun Sinirlioğlu dem damaligen Premier bereits 2013 gesagt, dass die Israelis diese Forderung niemals akzeptieren würden. Daraufhin habe Erdoğan ihn angeherrscht, er solle „tun, was immer notwendig ist“, damit sie der Forderung nachkommen.

Doch die Gaza-Blockade ist für die Israelis eine rote Linie. Netanyahu hatte wiederholt klargestellt, dass er bei diesem Punkt keine Kompromisse machen werde. Mehr noch: Das türkische Beharren auf die Aufhebung der Blockade sei einer der Hauptgründe gewesen, warum es sechs Jahre gedauert hat, bis eine Aussöhnung zustande kam. Hier stießen die unversöhnlichen Standpunkte der beiden konservativen Alpha-Rüden Erdoğan und Netanyahu aufeinander – und Netanyahu hat gewonnen. Die Gaza-Blockade bleibt und die Türkei erkennt sie de facto an.

Humanitäre Hilfsgüter müssen nun vorher im Hafen von Aschdod gelöscht werden, durchlaufen israelische Sicherheitskontrollen und werden dann nach Gaza weitergeleitet – es ist also nichts anderes als der Status quo ante, der mit dem Abkommen wieder hergestellt wird. Premierminister Binali Yıldırım hat bereits angekündigt, dass schon am Freitag das erste türkische Schiff mit 20 000 Tonnen Hilfsgütern in Richtung Aschdod aufbrechen soll. Zumindest will die Türkei dann aber – auch das steht im Abkommen – ihre humanitäre Hilfe im Gazastreifen in Zukunft stark ausbauen. So sollen unter türkischer Regie beispielsweise ein Krankenhaus, ein Kraftwerk und eine Meerwasserentsalzungsanlage zur Trinkwassergewinnung gebaut werden, um den katastrophalen Zustand der Infrastruktur in Gaza wenigsten ein klein wenig zu lindern.

Doch nicht nur die faktische Anerkennung der Gaza-Blockade wird dem islamistischen, israelfeindlichen und antisemitischen Klientel schwer zu vermitteln sein. Der jüdische Staat hat auch in anderen Bereichen einige Verhandlungserfolge vorzuweisen: So hat die Türkei zugestimmt, ein Gesetz zu verabschieden, das eine strafrechtliche Verfolgung der am Vorfall beteiligten Soldaten unmöglich macht. Solche Gerichtsprozesse waren in Abwesenheit der Beschuldigten bereits angestrengt worden. Schlecht für Erdoğans Reputation bei seinen islamistischen Verbündeten im Nahen Osten dürfte außerdem sein, dass er der im Gazastreifen regierenden Hamas in den Rücken fällt. Israel hatte die komplette Schließung von Hamas-Vertretungen und die Ausweisung von Vertretern der radikalislamistischen Organisation aus der Türkei verlangt.

Das konnten die Türken zwar abwenden, aber der Hamas in der Türkei werden die Hörner gestutzt. Sie darf weiterhin eine „diplomatische Vertretung“ in der Türkei betreiben, muss jedoch ihre militärische Vertretung schließen und darf keine Gelder mehr für Aktivitäten einwerben, die gegen den Staat Israel gerichtet sind. Vor allem aber muss der türkische Staat versichern, dass die Hamas von türkischen Gebiet aus keine militärischen Aktionen oder terroristischen Angriffe auf Israel mehr plant oder durchführt – und das auch durchsetzen. Das könnte die AKP noch in die unangenehme Situation bringen, erklären zu müssen, warum sie zum Wohle Israels gegen ihren eigenen, jahrelang hofierten Verbündeten vorgeht. Außerdem hat die türkische Seite zugesagt, geheimdienstliche Informationen mit den Israelis zu teilen, um die Suche nach je zwei israelischen Soldaten und Zivilisten zu unterstützen, die im Gaza-Streifen von der Hamas gefangen gehalten werden.

„Die Türkei hat getan, was Israel seit Jahren erfolglos zu erreichen versucht“

Der Schriftsteller İbrahim Sediyani hat an der Mavi-Marmara-Aktion teilgenommen. Er stieg am 27. Mai 2010 auf das Schiff und hat die Ereignisse der folgenden Tage miterlebt. Im Interview mit dem türkischen Nachrichtenportal Diken sagte der in Deutschland lebende Autor mehrerer Bücher, er sei zur Fahrt der Flottille eingeladen worden, um über sie zu schreiben, habe aber auch aus Solidarität teilgenommen: „Unter den 587 Reisenden waren sowohl Menschen, die mit der Aktion der islamischen Umma und dem Islam einen Dienst erweisen wollten, als auch solche wie ich, denen es darum ging, sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren. Ich habe nicht teilgenommen, weil die Palästinenser Muslime sind. Israel war im Unrecht und die Palästinenser im Recht. Falls es andersherum gewesen wäre, wäre ich auf das Schiff gestiegen, um gegen Palästina zu protestieren.“

Wie viele andere Teilnehmer und Verwandte von Opfern ist Sediyani skeptisch und zurückhaltend was das Versöhnungsabkommen zwischen Israel und Türkei angeht: „Die Türkei hat getan, was Israel seit Jahren erfolglos zu erreichen versucht: Sie hat die Blockade, die von der ganzen Welt abgelehnt wird, anerkannt. Unverhohlen sagen sie‚ dass sie über den Hafen Aschdod humanitäre Hilfe leisten werden. Israel hat die Nutzung des Hafens ohnehin seit jeher erlaubt. Der Grund, warum die Mavi Marmara gestürmt wurde, war doch, dass sie die Hilfsgüter nicht in Aschdod abliefern, sondern direkt nach Gaza bringen wollte.“ Der Schriftsteller sieht das Abkommen als Verrat an den Opfern des Zwischenfalls: „Israel hat damals neun Menschen getötet, aber mit diesem Abkommen hat Erdoğan die Mavi Marmara nun endgültig versenkt. Erdoğan ist so unverschämt, dass er den Menschen in die Augen schaut und dabei lügt. Bei dem Abkommen wurden weder die Rechte der Mavi-Marmara-Aktivisten, noch die der Bevölkerung von Gaza gewahrt.“

Wie Sediyani denken viele Aktivisten, denen es damals darum ging, die israelische Gaza-Blockade zu durchbrechen. Sie sind enttäuscht von der AKP-Regierung und fühlen sich alleine gelassen, nachdem die Regierung jahrelang versichert hat, dass sie ihr Recht bekommen würden. Ihnen geht es weniger um das Geld, als viel mehr um die Sache selbst. Und die hat Erdoğan ihrer Auffassung nach verraten, indem er von seiner Position, ohne die Aufhebung der Blockade keinen Frieden mit Israel zu schließen, abgewichen ist.

„Wem das Blut gehört, dem gehört das Wort“

Auch Çiğdem Topçuoğlu aus dem südtürkischen Adana hat an der Aktion teilgenommen, gemeinsam mit ihrem Mann Çetin. Er ist eines der insgesamt neun Todesopfer der Mavi-Marmara-Aktion. An seiner Beerdigung am 4. Juli 2010 nahmen knapp 30 000 Menschen teil, die Stadtverwaltung von Ankara hat eine Strasse nach ihm benannt. Sie heißt seit August 2010 „Strasse des Märtyrers Çetin Topçuoğlu“. Der ehemalige Amateurfußballer war 54 Jahre alt, als er von Schlägen israelischer Soldaten getötet wurde. Seine Frau Çiğdem blickt mit tiefer Verbitterung auf das Abkommen: „Wenn ich die aktuelle Lage sehe, frage ich mich, warum nicht ich auf diesem Schiff gestorben bin. Wäre ich doch umgekommen, dann hätte ich wenigstens diese Tage nicht erlebt.“

Über die Gerichtsverfahren, die die türkische Regierung mit einem Gesetz unterbinden will sagt sie: „Die Strafverfahren dauern an. Ich vertraue in dieser Frage den Worten unseres Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan der gesagt hat ‚Wem das Blut gehört, dem gehört das Wort.'“ Mit dem türkischen Sprichwort („söz sahibi kan sahibidir“) ist gemeint, dass der Staat ohne Zustimmung der Opfer und Angehörigen nicht das Recht hat, die Strafverfolgung der Täter aus der Hand zu geben. Genau das wurde jetzt per Abkommen besiegelt. Es zeigt sich einmal mehr: Erdoğan hintergeht nicht nur seine politischen Gegner, sondern auch seine engsten Verbündeten, wenn es politisch opportun ist.

Die Türkei steht auf dem internationalen Parkett so isoliert da wie noch nie. Der neue Kuschelkurs des Landes – Versöhnung mit Israel, Entschuldigung bei Putin, zaghafte Annäherungsversuche an das Militärregime in Ägypten, sich abzeichnender Strategiewechsel in Syrien – zeugt davon, dass die türkische Führung offensichtlich eingesehen hat, dass sie (mit Ausnahme der Flüchtlingskrise) außenpolitisch mit dem Rücken zur Wand steht. Dass Erdoğan, während die Verhandlungen die ganze Zeit liefen, die Illusion aufrecht erhalten hat, er werde beim ideologisch so wichtigen Thema Gaza-Blockade genauso wenig nachgeben wie bei der Strafverfolgung der israelischen Soldaten, macht die Ergebnisse des Abkommens nicht weniger wertvoll. Es zeugt aber erneut von seiner Art, Politik zu betreiben, von der Kraftmeierei, dem Populismus. Dabei ähnelt er Benjamin Netanyahu, der während der Verhandlungen mit Hardlinern in den eigenen Reihen zu kämpfen hat(te). Netanyahu hat die Seele des „Versöhnungsabkommens“ pointiert zusammengefasst: „Wir fahren hier nicht in die Flitterwochen und sehen die Dinge auch nicht durch die rosarote Brille, aber unsere Interessen sind in dem Abkommen positiv hervorgetreten. Es ist ein wichtiges Abkommen. Ich tue, was wichtig ist für Israel und seine kommenden Generationen.“