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Politik

Israels zweites Gesicht

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Seit bald fünf Jahren herrscht Krieg in Syrien: Hunderttausende Tote, Millionen Flüchtlinge, ungezählte Verletzte. Medizinische Versorgung gibt es kaum. Doch im Feindesland Israel nehmen drei Krankenhäuser Syrer auf.

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Das Leben mit Gesicht endete für Ali, als eine Bombe
sein Haus traf. Es war eine Bombe der syrischen Streitkräfte, sie
fegte Ali von seinem Stuhl, auf dem er vor dem Haus in Südsyrien saß.
Sie zerriss ihm den Hals, den Kiefer, den unteren Teil des Gesichts.
Er verlor das Bewusstsein, den Mund, die Zunge. Zehn Tage lang
schwebte er zwischen Leben und Tod, bis Verwandte sich keinen anderen
Rat mehr wussten, als ihn in einen Teppich gewickelt am Grenzzaun zu
Israel abzulegen.

Bis vor fünf Jahren war das undenkbar, denn die politische Führung in
Syrien erkennt Israel als Staat nicht an; die beiden Länder befinden
sich im Kriegszustand. Umstritten ist unter anderem der Status der
von Israel besetzten Golanhöhen. Es gibt nur einen von
Blauhelmsoldaten bewachten Grenzübergang. Normalen Grenzverkehr für
Zivilisten gibt es nicht. Der Bürgerkrieg in Syrien aber macht das
eigentlich Unmögliche möglich: Allein ins Krankenhaus von Naharija im
Norden Israels wurden in den vergangenen Jahren rund 900 Syrer
eingeliefert – Rebellen, Assad-Soldaten, Zivilisten.

Wenn Hilfe gebraucht wird, sind Religion und Politik egal

Was Ali gelungen ist, grenzt an ein Wunder: Viermal konnte er den
Grenzzaun passieren – mit Hilfe eingeweihter Personen auf syrischer
Seite und mit Hilfe der israelischen Armee. Sie wird informiert, wenn
ein Syrer am Grenzzaun auf Hilfe wartet, die Soldaten holen
Verwundete dort ab und bringen sie in eines der drei Krankenhäuser in
Israel, die Syrer behandeln. Sara Paperin von der Klinikverwaltung in
Naharija sagt, es sei egal, ob der Patient Jude oder Araber sei,
politisch rechts oder links stehe: „Sobald er über die
Krankenhausschwelle kommt, ist er Patient, und wir sind die Pfleger.“

Laut Sara Paperin bekommen sie in Naharija alles zu sehen: Wunden
durch Kopfschüsse, Brandwunden, abgetrennte Gliedmaßen, Erblindungen
durch Granatsplitter. Sie erzählt von Schüssen auf den Bauch
schwangerer Frauen, von Hirnverletzungen, die so nur auftreten, wenn
man jemanden eigentlich hinrichten will.

Für Ohad Ronen war Ali sein bislang schwierigster Fall. Der
45-Jährige ist Leiter der Kopf- und Hals-Chirurgie und sagt, einen
Verletzten ohne Unterkiefer, mit halbem Gesicht, habe er noch nie
operieren müssen: „Er konnte nicht essen, das Atmen war schwierig,
Reden unmöglich.“ Es brauchte viele Operationen, um Gewebe
aufzubauen, wo später Kieferknochen Platz finden sollten: „Wir haben
Stücke aus seinem Wadenbein entnommen und damit Teile seines Halses
und Gesichts aufgebaut. Wir mussten Blutgefäße am Hals schaffen, aus
Beinknochen formten wir den Unterkiefer.“ Gesichtsgewebe schließlich
wurde dafür genutzt, um Lippen und Zunge zu rekonstruieren.

Diese komplizierte Krankheitsgeschichte macht es nötig, dass Ali
immer wieder kommen muss. Zwischen den Operationen erholt er sich in
seinem Dorf in Syrien, und nicht immer sind die Ärzte und auch Ali
sich sicher, ob er es schaffen wird, erneut nach Israel zu gelangen.

„Ich dachte, in Israel leben unsere Feinde“

Jetzt steht Ali, der eigentlich anders heißt und seinen Heimatort
nicht verraten will, an der Rezeption in der Kopf- und
Hals-Chirurgie. Der Mann mit dem weißen Kopfverband ist beliebt im
Krankenhaus Naharija. Viele der Krankenschwestern und Ärzte sind
arabische Israelis. Sie verstehen seine Sprache, und trotz fehlender
Zunge ist die Verständigung mit dem geschulten Krankenhauspersonal
möglich.

Ali lacht mit den Krankenschwestern; er kennt sich aus in der Klinik,
bewegt sich dort frei, er teilt sich ein Dreibettzimmer mit Israelis.
Er will wiederkommen, wenn es die Lage in Syrien erlaubt; er möchte
die Behandlung hier abschließen: „Ich wollte anfangs auf keinen Fall
nach Israel. Ich dachte, dort leben unsere Feinde. Aber hier hat man
mein Leben gerettet.“ Er habe seine Meinung über Israel geändert. Er
habe auch keine Angst vor den Rebellen in Syrien, auch nicht vor den
Soldaten des sogenannten „Islamischen Staates“(IS).

Ob er nicht wisse, dass die IS-Kämpfer Andersdenkende brutal foltern
und töten? Ali schüttelt den Kopf. Alles sei besser als der jetzige
Machthaber, meint er: „Das einzige, was mir Angst bereitet, ist der
Gedanke, dass das Regime von Baschar al-Assad an der Macht bleibt.“

(kna/dtj)