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Politik

Ist Erdoğan ein Kemalist?

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Zwei Elemente bestimmten die Herrschaft der Kemalisten: Ein ausgrenzerischer Elitismus im Namen einer dogmatischen Staatsdoktrin und ein übersteigertes Sicherheitsdenken. Beides droht derzeit eine Renaissance zu erleben. (Foto: zaman)

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Wir befinden uns momentan in einer Periode, welche uns an frühere dunkle Zeiten der türkischen Geschichte erinnert – nämlich an all die Tage, an denen die Angst regierte und das Streben nach Sicherheit sowie die Unterordnung aller Lebensbereiche unter den Sicherheitsgedanken den Demokratisierungsprozess blockierte.

Vor kurzer Zeit war noch die Rede von der Möglichkeit einer neuen Verfassung; vom Aufstieg der Türkei in der Region und einer daraus entstandenen Vorbildrolle für die postrevolutionären Länder des Arabischen Frühlings; vom wirtschaftlichen Erfolg der Türkei und der Ausweitung ihrer Zivilgesellschaft und Wirtschaftsakteure in der Region.

Nun diskutiert die ganze Welt darüber, ob sich die Türkei an der Schwelle eines autoritären Regimes befindet oder nicht. Ich denke, diejenigen, die zur Schaffung einer postkemalistischen, neuen Türkei beigetragen haben, verdienen ein solches Endergebnis nicht.

Die kemalistischen Autoritäten, denen die öffentliche Unterstützung fehlte, waren auf den Staatsapparat angewiesen, um die Gesellschaft zu unterdrücken und durch diesen ihre imaginäre „ideale Nation“ zu formen. Sie haben das Militär, die Justiz und die hohe Bürokratie gegen die Mehrheit und gegen unliebsame Minderheiten benutzt – z.B. gegen die Konservativen, Kurden, Liberalen und Demokraten.

Das Recht, zu regieren, haben sie sich selbst angemaßt durch ihr Festhalten an der Gründungsideologie der Republik: den Kemalismus. Der Bezug zum Kemalismus als rechtmäßiger Herrschaftsanspruch war in Wirklichkeit ein politisches Dogma, um die Konservativen, Kurden und die Liberalen vom politischen Zentrum auszuschließen. Die Kemalisten hatten eine Mission: Eine „aufgeklärte“, von den Lehren des Islam, der Vergangenheit und den Traditionen befreite neue Gesellschaft aufzubauen.

Das Volk wird als unmündig betrachtet

Dabei kam der Säkularismus sehr gelegen – zunächst einmal als ein diskursives Werkzeug, um die konservativen Massen vom Staat, seinen zentralen Werten und von der herrschenden Elite zu entfremden, so dass die Konservativen nicht von sich behaupten können sollten, zu einem solchen Staat dazuzugehören. Der Säkularismus hatte die Kemalisten auch mit einer unbeschränkten und nie endenden Rechtfertigung versorgt, autoritäre Methoden gegenüber den „ignoranten“ und „zurückgebliebenen“ Konservativen zu ergreifen.

Allerdings hatten die Kemalisten des alten Regimes es immer noch nötig, die Unterstützung des Volkes insgesamt zu suchen, denn sie waren sich bewusst, dass sie nicht immer ausschließlich auf Zwang zurückgreifen konnten. Um die Menschen zugunsten des Staates zu mobilisieren, haben sie auf erfolgreiche Weise Furcht und Unsicherheit hervorgerufen. Sie haben die Auffassung verbreitet und kultiviert, dass die Türkei von feindlichen Nationen – welche ihre Fünften Kolonnen im Land hätten – umgeben wäre. Darüber hinaus haben sie behauptet, dass die territoriale Integrität der Türkei ständig bedroht sei und vieles mehr, was den Menschen Angst einflößen sollte.

Im Ergebnis war es egal, wer die Türkei regierte und wie. Das Einzige, was zählte, war die Vereinigung gegen die vermeintlichen inneren und äußeren Feinde der Türkei und die Bürger dazu zu bringen, sich für das Überleben der Nation geschlossen hinter den Staat zu stellen. Das Ergebnis war der Primat der Sicherheit in Politik, Gesellschaft und im täglichen Leben; zu Lasten der Forderungen nach Demokratie, Menschenrechten und dem Respekt für Unterschiedlichkeiten.

Nach 1999 mussten die tragenden Säulen des Autoritarismus – kemalistischer Säkularismus und Sicherheitsprimat – zu einem Stillstand kommen. Säkularismus wurde auf eine etwas pluralere und integrativere Weise interpretiert und über die Demokratisierung der Innenpolitik und eine zunehmend auf Kooperation basierende Außenpolitik wurde auch eine Abkehr von der früheren Sicherheitsdoktrin eingeleitet.

Umfassendes Bedrohungsszenario

Anstatt diese „neue Türkei“ zu institutionalisieren, indem eine liberal-demokratische Verfassung eingeführt wird, scheint die von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) gestellte Regierung sich allerdings zunehmend ein Spiegelbild der „alten Türkei“ zu schaffen, nur unter anderen Prämissen. Sogar Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan wiederholte kürzlich einen Slogan der alten Türkei: „Wollen die Füße (die einfachen Leute) zum Kopf (die Führenden) werden?“ Es ist wirklich schwer zu glauben, doch Erdoğan hat tatsächlich damit begonnen, auf Aussprüche aus der alten, kemalistischen Türkei zurückzugreifen.

Bloß wird nicht der Säkularismus, jedoch sein Gegenteil von der Regierung benutzt, um Unterstützung und Legitimität zu generieren – eine „Taktik“, welche İhsan Yılmaz von „Today’s Zaman“ als „gefährlich“ betrachtet. Zunehmende Bezugnahmen des Premierministers auf islamische Werte und Symbole scheinen zum Dogma erhoben zu werden, um die Säkularen und andere soziale Segmente auszuschließen und zu marginalisieren. Diese Strategie der Instrumentalisierung des Islam verfolgt zweifellos die Absicht, neben einer demokratischen noch eine religiöse Legitimität für die regierende Partei zu erzeugen.

Dann entstanden die Gezi-Park Proteste und wir sahen, wie die Regierung die Proteste in eine Rechtfertigung für die Wiedereinführung der Doktrin vom Primat der Sicherheit in die türkische Politik, Gesellschaft und sogar Wirtschaft genutzt hat. Nicht nur ausländische Regierungen, auch internationale Vereinigungen für Soziale Medien wie Twitter und Facebook, NGOs, die Börse, Banken, Künstler, Journalisten etc. wurden als potenzielle Feinde behandelt, welche die Absicht hätten, die AKP-Regierung zu stürzen.

Während wir für eine Herrschaft des Rechts in diesem Land gekämpft haben, sind wir doch dabei, unter einer AKP, welche ihre Achsen der Demokratisierung verschoben zu haben scheint, in einer Neuauflage der „Herrschaft durch Furcht“ zu enden.

Autoreninfo: İhsan Dağı ist ein renommierter Politikwissenschaftler und Kolumnist bei der türkischen Tageszeitung „Zaman“.