Kolumnen
Ist von Tekfīr die Rede, ist es zum Mord nicht mehr weit
Ich bin ein gläubiger Muslim und ein Erzfeind von „Tekfīr“. Tekfīr bedeutet, jemanden mit Unglauben zu bezichtigen oder zu beschuldigen. Dieser Begriff ist nicht mit der Exkommunikation in der christlichen Lehre zu vergleichen, denn eine Institution, die offiziell Menschen exkommunizieren darf, ist der Lehre des Islams zufolge nicht legitim.
Die ersten Tekfīr-Idelogen waren die Charidschiten, meiner Auffassung nach die ersten Anarchisten der frühislamischen Gemeinschaft. Diese ungebildeten, oberflächlichen, gewagten, mordgierigen Abweichler unterstellten dem dritten und vierten Kalifen „ungläubig“ zu sein, weil sie ihrer primitiven Auffassung nach koranwidrig gehandelt haben. Eine koranwidrige Handlung von Ali beispielsweise war – ihnen zufolge – seine Einwilligung für das Schiedsgericht zwischen den zwei gespaltenen muslimischen Parteien.
Was passiert, wenn man einen gläubigen Muslim zum „Ungläubigen“ erklärt? Der klassischen Normlehre nach muss der Abtrünnige getötet werden, wenn er nicht bereut und seine Meinung ändert. Gerade in diesem Punkt wurde Tekfīr in den Händen der Charidschiten zu einer Waffe und einem Legitimierungsgrund für ihre Gräueltaten. Wen immer sie ermorden wollten, unterstellten sie ihm, vom Glauben abgefallen zu sein, weshalb sie sich verpflichtet sahen, dieses „Unrecht“ zu beseitigen.
In der Literatur gibt es eine Vorstufe von Tekfīr: Tadlīl, das etwa „jemanden zum Fehlgeleiteten erklären“ bedeutet. Ibn Ruschd (Averroës) wurde bereits zu Lebzeiten von damaligen Gelehrten zum „Fehlgeleiteten“ erklärt. Es war ein betrübendes Gefühl für mich, als ich in meiner Jugend lesen musste, wie Ibn Ruschd und sein Sohn aufgrund seiner „ketzerischen Bücher“ während der Freitagspredigt aus der Moschee von Cordoba geworfen wurden, obwohl Ibn Ruschd damals der Oberster Richter von Cordoba war.
Weil es im Islam keine Institution gibt, die Menschen offiziell mit Tekfīr oder Tadlīl bezichtigen darf, werden diese beiden ideologischen Mittel im Prinzip von Menschengruppen gegen andere Menschengruppen eingesetzt. Die muslimischen Staaten, in denen eine zentrale religiöse Institution gegründet wurde, machten gelegentlich von diesen Mitteln Gebrauch und instrumentalisierten diese Behörde, um andere Muslime zu bekämpfen. Im 16. Jahrhundert wurde im Osmanischen Reich etwa eine Fatwā erlassen, wonach Aleviten nicht als Muslime zu betrachten seien und deswegen bekämpft werden könnten. Von einem Iraker, der am Krieg zwischen Iran und Irak teilnahm, habe ich gehört, dass die erste Frage, die Gefangenen von iranischer Seite gestellt wurde, lautete: Bist du Muslim oder Sunnit?
Ich hielt Tekfīr im 21. Jahrhundert schon längst für überholt, jedoch wurde ich eines Besseren belehrt. Der IS fungiert als neocharidschitische Miliz und ermordet zu 99% Muslime, die seiner Meinung nach „ungläubig“ sind.
Ich bin ein gläubiger Muslim und ein Erzfeind des Tekfīr. Denn Tekfīr birgt großes Unrecht sowie Unheil in sich und es verurteilt den Anderen auf eine Art und Weise, die ich mir nicht anmaßen darf. Es ist keine Wohltat. Anscheinend denkt die türkische Diyanet nicht so. Denn sie veröffentlichte jüngst einen Tekfīr- und Tadlīl-Erlass gegen Anhänger der Hizmet-Bewegung und definierte sie als „Fehlgeleitete“ beziehungsweise Ungläubige, dabei bezog sie sich in meinen Augen auf keinen triftigen Grund. Ich warne die Befürworter von Tekfīr und Tadlīl: Ist von Tekfīr die Rede, ist es zum Mord nicht mehr weit!