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Gesellschaft

Zum Wohle des Volkes oder zum Wohle der Machthaber?

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Es verwundert, wieso ein innenpolitischer Vorfall, der den Staat und die Bevölkerung betrifft, auf eine derartige Zensur trifft und man fragt sich, ob es bei dem geforderten journalistischen Ethos dem Interesse einer Partei oder einem Land geschuldet sein darf.

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Ahmet Davutoglu
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Bei dem Versuch den Staatsanwalt Mehmet Selim Kiraz aus der Geiselnahme der linksterroristischen DHKP-C zu befreien sind im Istanbuler Gericht in Çağlayan am 31. März sowohl die Geiselnehmer, als auch der Geisel gestorben. Als daraufhin in verschiedenen Medien Bilder des Attentates auftauchten sperrte die Regierung die Socialmedia-Kanäle Twitter und Youtube, um sie kurz darauf wieder zu eröffnen. Ministerpräsident Davutoğlu schimpfte über das „unmoralische Verhalten“ einiger Medien, die „während die Familie noch trauere“, Bilder der Geiselnahme zu veröffentlichten. Das sei keine „Pressefreiheit“ mehr, sondern verstoße gegen die „Menschlichkeit und menschliche Würde“. Es steht außer Frage, dass die Situation der Familie und der Angehörigen von Kiraz respektiert werden muss, doch fragt man sich ob der Tadel der Medien und die Sperrung von Social-Media seitens der Regierung, bei einem Vorfall, der die Innenpolitik des Landes betrifft, gerechtfertigt wird? Insbesondere wenn es das ganze Land und die Bevölkerung betrifft. Viel schwerwiegender ist die Frage, ob diese Zensur zum Schutze der Türkei und der Bevölkerung dienen soll, oder der Regierung und der amtierenden Partei, in diesem Falle der AKP.

Nationale Interessen versus Pressefreiheit

Es gibt immer wieder Fälle, wo die Diskussion um die Angemessenheit der Berichterstattung in Bezug auf nationale Interessen eines Landes entbrennt. So z.B. auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa sich in einem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau befand. 1954 wurde die Frage nach eines europäischen Sicherheitskonzeptes in Form einer gesamteuropäischen Verteidigungsarmee diskutiert, die zwar scheiterte und an dessen Ende die Bundesrepublik aber in die NATO eintreten sollte. Zu dieser Konferenz wurde im Spiegel ein Artikel veröffentlicht, der nicht wie in der Türkei innenpolitischer, sondern außenpolitischer Relevanz war, aber ebenfalls die Frage „Was darf politische Berichterstattung und was darf sie nicht?“ thematisieren lässt.

Der ungeladene Gast

In dem Artikel „Etwas Eis, Gentleman?“ hatte Lothar Rühl als Beobachter für den Spiegel die Londoner Konferenz 1954 besucht. In der Nacht vom 28. auf den 29. September saßen im Londoner Nobel-Hotel Claridge’s Bundeskanzler Konrad Adenauer, der luxemburgische Ministerpräsident Joseph Bech und der belgische Außenminister Paul-Henri Spaak im Foyer zusammen. Der erste Tag der Konferenz war verstrichen. Lothar Rühl, damals ein junger Spiegel-Korrespondent, war der ungeladene und unentdeckte Gast dieser elitären Runde. Verborgen hinter einer Säule sitzend und lauschend, machte sich Notizen, die er später in einem Artikel veröffentlichte. Ein französisches Veto hatte am 30. August 1954 die Idee einer supranational organisierten, europäischen Verteidigungsarmee mit deutschen Kontingenten beendigt. Konrad Adenauer sprach betont seinen Gesprächspartnern gegenüber die Dringlichkeit einer militärischen Einigung Europas und Einbindung (West-)Deutschlands in dieses. Adenauer äußerte seine Bedenken zu einer eigenständigen bundesdeutschen Armee und warnte vor einem deutschen Nationalismus bei nationalen Alleingängen der Staaten, zu denen ein Scheitern einer gesamteuropäischen Armee führen werde. Den Beteiligten war bewusst, dass es ein Kräftemessen und ein Zerrspiel der Mächte, besonders zwischen Frankreich und Deutschland werden würde. Es sollte der erste retardierende Moment in dem europäischen Einigungs- und Wiederaufbauprozess sein. Adenauers Worte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren lösten nach ihrer Publikation wegen des Misstrauens des amtierenden Kanzlers gegen das eigene Volk und der Verunglimpfung seiner politischen Gegner einen Skandal aus. Obwohl Rühl um der Vermeidung noch größerer staatsschädigender Folgen willen nicht den ganzen Wortlaut veröffentlichte, in dem es auch über die jüdische Abstammung des französischen Ministerpräsidenten gehen soll. Lothar Rühl hat in Bonn Rechts- und Staatswissenschaften sowie Geschichte studiert. Neben dem Beruf als Journalist in Paris setzte er ab 1954 sein Studium an der Sorbonne fort, promovierte dort 1971 und habilitierte sich 1986 in Köln. Er arbeitete u.a. für alle namhaften Blätter, wie den Spiegel, Die Welt, Die Zeit, FAZ, NZZ und den ZDF. Er ist außerdem Autor zahlreicher Bücher. Zwischen den Jahren 1982-89 war er Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung gewesen.

Begegnung mit dem Spiegel-Korrespondent Rühl

Zu Studienzwecken befand ich mich im Wohnort von Rühl, in Bonn und erkannte auf dem Weg zur Bibliothek Lothar Rühl an der Ampel stehend. Herr Rühl war ein würdevoll gealterter, mittlerweile über 80 Jahre älterer Herr. Man sah ihm seine Lebenserfahrung und Weisheit an. Die Ampel leuchtete grün und er ging in langsamen Schritten vor, als ich ihm hinterherrannte. Ich blieb neben ihm stehen und fragte freundlich und ob er denn nicht Lothar Rühl sei. Ein wenig verwundert über den mein plötzliches Erscheinen, lächelte und nickte er. Ich stellte mich ihm als Geschichtsstudenten vor, der seinen Spiegel-Artikel aus dem Jahr 1954 im Rahmen eines Seminars gelesen hatte. Der Artikel hatte damals einen Skandal ausgelöst. „Das ist aber lange her“, sagte er und willigte mit einem Nicken, vielleicht ein wenig unfreiwillig, ein, meine Fragen dazu zu beantworten. Neben dem, was bekannt war und auch in der Forschung rezipiert wurde, Rühl hatte vielleicht noch heiklere Aussagen Adenauers bewusst ausgelassen. Den Grund genau dafür wollte ich von ihm erfahren, als ich, seinem Schritttempo angepasst, neben ihm herging. „In der Literatur steht auch, dass Sie einige Aussagen, in denen sich Adenauer über Frankreich und den französischen Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France, verschwiegen hätten.“ Ob er mir sagen könne, worum es sich da handelte und wieso er die Dinge nicht in den Artikel aufgenommen hätte. Daraufhin blieb Rühl stehen, schaute mich mit ernster Mine an. Er habe alles bei einem Notar in Hamburg zu Protokoll gegeben. Was es zu sagen gegeben hätte, habe er gesagt, „nicht mehr und nicht weniger.“ Ich verstand, dass unser Gespräch beendet war und bedankte mich bei ihm recht herzlich und wünschte ihm einen schönen Tag.

Ich grübelte lange darüber nach, ob ich etwas falsches gesagt hatte, kam aber letztlich zu dem Schluss, dass Rühl aufgrund seines journalistisches Ethos Informationen die dem Land schaden könnten auch nach 60 Jahren verschwieg. Es ging ihm nicht um das Ansehen der CDU, zu der regierenden Partei damals oder der regierenden Partei in deren Zeit er Staatssekretär gewesen war. Es war das Interesse des Landes, bilaterale Beziehungen nicht zu tangieren oder gar zu gefährden, da Rühl auch keine unwichtige Person ist. Seine Aussagen fallen nicht nur auf ihn, sondern auch auf die Bundesrepublik und in diesem Falle auf die deutsch-französischen Beziehungen zurück. Deshalb verwundert es, wieso ein innenpolitischer Vorfall, der den Staat und die Bevölkerung betrifft, auf eine derartige Zensur trifft und man fragt sich, ob es bei dem geforderten journalistischen Ethos dem Interesse einer Partei oder einem Land geschuldet sein darf.