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Gesellschaft

Judentum: „Erwählung heißt nicht Erhöhung über andere Völker“

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Am Donnerstag wird der Journalist Dr. Dirk Pilz in der Evangelischen Akademie Berlin eine Abendveranstaltung zum Thema Judentum moderieren. Dabei wird er auch das Projekt „House of One“ noch einmal vorstellen. (Foto: dpa)

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In Berlin entsteht ein weltweit einzigartiges Haus, das von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam finanziert und getragen wird. Noch bevor das Haus steht, setzt sich „House of One“ auch mit kritischen Fragen, die an die monotheistischen Religionen gestellt werden, auseinander. Am morgigen Donnerstag wird in diesem Zusammenhang der Frage nachgegangen, was ein „auserwähltes Volk“ ausmacht und wie dieser Begriff zu verstehen ist.

Moderiert wird die Veranstaltung von dem Journalisten Dirk Pilz. Im DTJ-Interview erzählt Pilz, warum er sich bei dem Projekt engagiert und worüber am Donnerstagabend diskutiert werden wird.

Herr Pilz, was ist ein auserwähltes Volk?

Die Frage nach Auserwählung ist das große Thema der hebräischen Bibel – es gibt darauf keine Antwort, die sich in einfache Formeln packen lässt. Im Buch Exodus steht der Imperativ Gottes: „Ihr sollt mir sein ein priesterliches Reich und ein heilig Volk.“

Und wie ist dieser Vers zu verstehen?

Einerseits sagt dieser Gott zu „seinem Volk“, er wolle es zum „Licht der Völker“ machen, „dass du seist mein Heil bis zu den Enden der Erde“, es wird „aus Liebe erwählt“, mit ihm schließt dieser Gott oder besser: Jahwe einen Bund, bei ihm wolle er „wohnen“. Andererseits werde dieses Volk damit aber zum „Knecht“ Gottes. Es war der jüdischen Tradition, so weit ich sehe, deshalb immer klar, dass diese Auserwählung auch eine Überforderung ist. Denn Erwählung ist nicht nur Auszeichnung, sondern genauso Verpflichtung. Der große Rabbiner und Philosoph Martin Buber hat darum gefragt: „Wie werden wir, die Juden, die wir sind?“ Diese Frage stellt sich immer wieder, und schon die biblischen Schriften geben hierauf verschiedene Antworten. Erwählung ist etwas, das auch die Juden erst zu verstehen lernen mussten und immer wieder zu verstehen lernen müssen. Man sieht es zum Beispiel daran, dass der hebräische Begriff, das Wort „Erwählung“, erst relativ spät in der Tora auftaucht – es ist von Anfang an ein theologischer Prozess, eine Antwort darauf zu finden, was ein auserwähltes Volk ist. Entsprechend ist diese bis heute nach wie vor umstritten. Die Juden sind zwar das auserwählte Volk, aber es gibt nicht „die Juden“.

Wir wirkt sich dieses Dogma – in der Einladung ist die Rede von einer Grundidee – auf das jüdische Menschenbild aus?

Es ist das Fundament. Aber es ist kein Dogma – Dogmen, Lehrsätze, kennt und prägt das Christentum, nicht das Judentum. Erwählung betrifft ja die Identität des Judentums, insofern natürlich auch das Menschen- und entsprechend das Gottesbild. Denn wer einmal in den Bund eingetreten ist, kann ihn nicht wieder verlassen.

Was ist dann die Folge dieses Bundes mit Gott?

Gehorsam. Und für die hebräische Bibel heißt Gehorsam vor allem tätige Dankbarkeit. Deshalb finden sich in ihr auch so viele Appelle zur Dankbarkeit, es sind immer Zusprüche, die Erwählungs- und Liebeserklärung Gottes anzuerkennen, anzunehmen, sich in diese geschenkte Wirklichkeit in Gehorsamkeit und Dankbarkeit hineinzustellen. Die Geschichte der Erwählung ist ja laut den biblischen Geschichten immer von der Gefahr begleitet, das Auserwähltsein zu verfehlen, zu verlieren. Die jüdische Liturgie ist deshalb wesentlich Erinnerung an die Erwählung, an Gottes Liebe, zu der es keine andere Antwort als Dankbarkeit geben kann. Es geht für das Judentum immer darum, der Liebe Gottes, der Erwählung treu zu bleiben, deshalb auch die große Bedeutung von Geboten und Gesetzen, die immer bindend und verpflichtend hinsichtlich der Erwählung, des Bundes sind. Sehr zu recht hat der Kulturwissenschaftler und Religionshistoriker Jan Assmann deshalb kürzlich von einem „Monotheismus der Treue“ gesprochen.

Was ist das Merkmal des „Monotheismus der Treue“?

Nicht die Frage, was wahr oder unwahr ist, steht im Zentrum, sondern die Differenz von Treue und Verrat. Davon handeln auch viele Erzählungen der Tora. Und aus einer tätigen Dankbarkeit, aus der Verpflichtung zur Treue erwächst, so würde ich sagen, auch die Freiheit, die Gesellschaft zu gestalten, sich dankend, liebend dem Anderen zuzuwenden, eine viel deutlicher ausgeprägte Diesseitigkeit als im Christentum oder Islam.

Teilt dieses jüdisches Fundament Menschen nicht unter auserwählte und nicht auserwählte ein und schafft damit die Voraussetzung für Ungleichheit?

Nein. Natürlich zieht Erwählung eine Grenze, aber das ist keine Frage von Ungleichheit. Es wird damit ja keineswegs gesagt, dass Juden in irgendeiner Weise bessere Menschen wären oder besondere Rechte im weltlichen Sinne hätten.

Wieso nicht? Wenn ich in Abgrenzung zu anderen auserwählt werde, bin ich ihnen doch überlegen?

Eben nicht. Man muss hier zwei Dinge bedenken. Zum einen schließt Erwählung keinerlei Triumphalismus ein. Der jüdische Gott führt sein Volk zwar aus der ägyptischen Gefangenschaft – die Exodus-Geschichte – und vernichtet die Feinde, aber Erwählung heißt nicht Erhöhung über andere Völker. Der Erwählungsgedanke wird in der Tora mehrfach sehr radikal formuliert: Israel sei kein imponierendes Volk, vielmehr „das geringste unter den Völkern“. Es ist hier zentral, dass Erwählung nicht mit Messianismus zusammenfällt. Dennoch soll es aber zugleich, wie erwähnt, das „Licht der Völker“ sein. Schalom Ben-Chorin, der Vater von Tovia Ben-Chorin, der bei unserer Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum auch dabei sein wird, hat einmal sehr schön davon gesprochen, Israel sei „erwählt zum Gleichnis der Völker“: Ja, Erwählung stellt eine Abgrenzung dar, aber Gott zeigt sich nicht nur seinem Volk, sondern allen.

Und zum anderen?

…muss man daran erinnern, dass zu den Erben Abrahams nicht nur Isaak, sondern auch sein erstgeborener Sohn zählt, Ismael, Sohn der Ägypterin Hagar. Ihm gilt auch eine Verheißung: „Ich will ihn zu großem Volke machen.“ Ausdrücklich spricht Gott zu Abraham: „Auch für Ismael habe ich dich erhört“. Bekanntlich waren sich die beiden Söhne Abrahams Ismael und Isaak nicht sonderlich hold, erst beim gemeinsamen Begräbnis in der Höhle Machlepa finden sie zusammen. Eine Gemeinsamkeit, die heute gern vergessen wird.

Einem Außenbeobachter fällt es schwer zu unterscheiden, wo Judentum endet und Israel beginnt. Welche Rolle spielt der Staat Israel für einen Juden?

Diese Unterscheidung fällt, wenn ich das richtig sehe, auch vielen Juden schwer. Sie werden, so vermute ich, sehr verschiedene Antworten bekommen, wenn Sie einzelne Juden fragen, welche Rolle der Staat Israel für sie spielt. Es ist bei dieser Frage ja nie klar, worauf sie sich bezieht: auf die aktuelle Politik in Israel? Auf die jüngere Geschichte des Staates Israel, zu der auch die Siedlungs- und Kriegsgeschichte gehört? Auf den Konflikt mit den Palästinensern?

Ich meine eher die Vermischung des Politischen mit dem Theologischen.

Politisch gibt es hierauf sehr unterschiedliche Antworten – hören Sie sich Debatten in der Knesset an, man bekommt die Streitigkeiten sehr plastisch vorgeführt. Theologisch ist aber die Verheißung eines „gelobten Landes“ nicht vom Exodus und von der Erwählung zu trennen: Das ist das besondere einer „Bundestheologie“, einer Theologie der Erwählung. Diese dichte Verflechtung von Politik und Theologie macht jedoch auch alle Fragen nach dem Staat Israel so heikel und kompliziert, vor allem, weil in den öffentlichen Debatten in der Regel nicht klar ist, auf welcher Ebene gerade argumentiert wird. Es gibt hier immer die Gefahr, Verheißung nur national zu verstehen, oder, anders genommen: politisch zu vereinnahmen.

Gibt es im Judentum eine „Theologie des Dialogs“? Wie stehen Sie zu den anderen beiden monotheistischen Religionen Christentum und Islam, die ja historisch jünger sind? Was ist ihre Kritik an diesen Religionen?

Aber natürlich gibt es eine Theologie des Dialogs, und zwar von Anfang an. Die Geschichte des Judentums ist theologisch überaus dialogreich. Auch das hat seine Ursache in der Erwählung: Wenn es stimmt, dass es dabei vor allem um die Frage von Treue und Untreue geht, dann kann diese ja nur auftauchen, wenn sich Alternativen finden – treu oder untreu einem Gott gegenüber kann man nur sein, wo es andere Götter, einen anderen Glauben gibt. Und weil es diese Alternativen gibt, gleichzeitig aber die Treue zum Bund, zur eigenen Geschichte entscheidend ist, hat sich das Judentum immer wieder intensiv mit anderen Glaubensvorstellungen beschäftigt, um sich des eigenen Glaubens zu versichern, ihn zu verstehen. Insofern gehört eine Theologie des Dialogs zur Theologie des Bundes dazu. Man darf Dialog nur nicht mit dem Aushandeln von Kompromissen oder kleinsten gemeinsamen Nennern verwechseln; darum geht es in politischen Konflikten, nicht in interreligiösen Dialogen, jedenfalls dann, wenn sie mehr als Verlautbarungen und bloße Willensbekundungen, sondern gestaltetes Miteinander sein wollen. Und man darf Kritik nicht im alltagssprachlichen Sinne als Herabsetzung begreifen: Kritisieren heißt nicht sagen, was man schlecht oder falsch findet, kritisieren ist seinem griechischen Wortursprung nach die Fähigkeit, Differenzen wahrzunehmen und begründen zu können, Unterschiede und Gemeinsamkeiten genau zu lokalisieren.

Wie halten es die Religionen untereinander mit Kritik?

Das Judentum „kritisiert“ den Islam und das Christentum, wie umgekehrt auch Islam und Christentum einander und das Judentum kritisieren. Entscheidend ist, dass solche Kritik keinen Mangel anzeigt, dass es nichts ist, das man irgendwie überwinden müsste, sollte man das überhaupt können. Kritik in diesem Sinne ist die Voraussetzung für jeden gelingenden Dialog. Gerade für den Dialog zwischen den Religionen kommt es auf das Lob der Differenzen an, ein Lob, das auf Rangordnungen, Herab- oder Heraufsetzungen verzichtet: Jede gehaltvolle Kritik ist eine Würdigung des Kritisierens.

Sie wirken bei dem Projekt „House of One“ mit. Was ist das für ein Projekt?

Das „House of One“ ist ein gemeinsames Bet- und Lehrhaus, das auf dem Berliner Petriplatz entstehen wird, ein großes, schönes Haus. Es wird hier eine Moschee, eine Synagoge, eine Kirche und einen vierten, gemeinsamen Begegnungsraum geben: Die drei Religionen werden Räume für ihre eigenen Liturgien, Feste, Gottesdienste haben. Sie sollen nicht vermischt werden, es wird auch nicht nach einer irgendwie neuen, alle drei Religionen vereinenden Religion gesucht. Zugleich wird aber ein Raum geschaffen, einander zu begegnen und voneinander zu lernen. Es gibt einen Verein, der das Vorhaben trägt, ein Kuratorium und eine wachsende, weltweite Aufmerksamkeit.

Warum wirken Sie mit? Sind Sie Mitglied des Vereins?

Ich gehöre nicht zu diesem Verein, aber ich moderiere verschiedene Veranstaltungen, beschäftige mich auch viel mit allen Fragen, die solch ein Vorhaben aufwirft. Die Mitarbeit ist mir inzwischen zu einer Herzensangelegenheit geworden, auch weil ich hier kluge, ernsthaft um Dialog bemühte Menschen gefunden habe. Die Begegnungen und Gespräche möchte ich nicht mehr missen. Dieses gemeinsame Einüben in das Lob der Differenz, den Dialog der Religionen genauso wie den zwischen säkularer Gesellschaft und Religion halte ich generell für ungemein wichtig – das Thema wird zukünftig uns allgemein eher mehr als weniger beschäftigen, und zwar uns alle in dieser Gesellschaft. Ich meine, dass es dabei nicht nur um rechtliche und zivilgesellschaftliche Fragen geht. Man muss sich vor allem mit den theologischen Differenzen befassen, und dafür ist das „House of One“ ein herausragender Ort. Außerdem lerne ich sehr viel dabei, auch über meinen eigenen, christlichen Glauben. Das „House of One“ wird ein Ort mitten in der Stadt werden, an dem man mit seinem Glauben genauso zu Hause sein kann wie mit den Zweifeln, Fragen, Unsicherheiten. Ich glaube, dass eine Stadt wie Berlin gerade einen solchen Ort braucht und dass von ihm eine große, im besten Sinne kritische Strahlkraft ausgehen kann.

Dr. Dirk Pilz, geboren 1972, ist freier Publizist, vor allem für die Berliner Zeitung und die Neue Zürcher Zeitung, daneben unterrichtet er an mehreren Universitäten. Er ist einer der Mitgründer und Redakteure des Theaterfeuilletons www.nachtkritik.de. Für das „House of One“ ist er als Moderator tätig.