Connect with us

Politik

Kann die Türkei einen Systemwechsel überhaupt gebrauchen?

Spread the love

Mit dem Verzicht auf ein Präsidialsystem hat die AKP die Opposition unter Zugzwang gesetzt. Der Nutzen für das Land geht jedoch darüber hinaus. Die errungene Stabilität des Landes darf nicht durch Schnellschüsse gefährdet werden. (Foto: aa)

Published

on

Kann die Türkei einen Systemwechsel überhaupt gebrauchen?
Spread the love

Die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) bereitet sich im Zusammenhang mit der Verfassungsdebatte auf ein taktisches Manöver vor, um die Opposition in eine Ecke zu drängen. Die Tatsache, dass ein Kommissionsmitglied der AK-Partei sogar sagte, dass man um eines Kompromisses Willen sogar bereit wäre, hinsichtlich des Beharrens auf einem Präsidialsystem einen Rückzieher zu machen, ist eines der konkreten Anzeichen für diesen Schritt. Die Opposition hatte stets behauptet, dass der Verfassungsprozess in erster Linie durch das Beharren der AKP auf diesem Vorschlag zur Systemreform ins Stocken geraten wäre.

Die Äußerung hinsichtlich der Kompromissbereitschaft im Zusammenhang mit dem Präsidialsystem war auf die Tagesordnung gebracht worden, während gerade Kommissionsgespräche im Gange waren. Und jetzt, mit diesem Trumpf fest in der Hand, wird die AK-Partei weiter versuchen, die Opposition in eine Ecke zu drängen. In der Zwischenzeit werden die zutage tretenden Hindernisse auf dem Weg der Niederschrift der Verfassung deutlich machen, dass die Politik ein Spiel ist, in dem man nur mit einer einzigartigen Denkweise vorankommt.

Die AKP verzichtet auf ihre Optionen, ein Präsidialsystem auf den Weg zu bringen, und trotzdem verzögert sich die Niederschrift eines konsensualen Verfassungsentwurfes. Die Opposition wird durch diese Zugeständnisse in eine schwierige Position gebracht und am Ende wird jede Verzögerung einer neuen Verfassung auf dem Weg zur Volksabstimmung auf sie zurückfallen.

Kein Systemwechsel ohne Stärkung der Gewaltenteilung

Die Erkundungen und die Geschäftigkeit hinsichtlich einer möglichen Errichtung eines Präsidialsystems haben es nie zuvor in so machtvoller Weise auf die politische Agenda der Türkei geschafft. Die Debatten über ein solches System, die sich sowohl unter Turgut Özal als auch unter Süleyman Demirel ihren Weg an die Öffentlichkeit gebahnt hatten, waren sicherlich noch nie so ernst. In gewissem Sinne benutzt Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan auf diese Weise eine Trumpfkarte, die ihm von der jüngsten Geschichte übergeben wurde. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre, insbesondere im Zusammenhang mit dem unwürdigen Spektakel im Jahre 2007, gibt es durchaus einen Grund für und sogar ein Recht der Bevölkerung auf ein Präsidentschaftssystem. Zur gleichen Zeit aber, in diesem Jahr, 2013, wäre es fast unmöglich für die Türkei, den Übergang zu einem Präsidialsystem zu schaffen, vor allem, da das Land mit Debatten über die kurdischen Probleme beschäftigt ist.

Und außerdem birgt das Präsidialsystem auch die Gefahr, dass die mächtigste Trumpfkarte der regierenden Partei, die Stabilität des Landes, untergraben wird.

Wie es aussieht, unternimmt die Türkei große Schritte in die richtige Richtung, mit einer starken Bilanz, die aus elf Jahren der Stabilität resultiert. Durch die Entwicklungen dieser stabilen Jahre wurden neue, wirksame Problemlösungstechniken und Werkzeuge entwickelt; zur gleichen Zeit aber ist diese Stabilität noch abhängig von persönlichen Fähigkeiten und charismatischer Autorität. Schon die bloße Diskussion über eine Änderung der politischen Systeme ist derzeit noch vergleichbar mit einem Wechseln der Pferde mitten im Strom.

Die Fortsetzung dieser Entwicklung in Richtung Stabilität ist grundsätzlich davon abhängig, ob die regierende Partei dazu in der Lage ist, die Opposition auf einige wichtige Regeln festzunageln. Die Stabilität, welche durch die Politik der aktuellen Regierungspartei geschaffen werden konnte, ist eine Schöpfung des parlamentarischen Systems. Im Laufe von elf Jahren hat die AK-Partei große Krisen überwunden und Stabilität auf der Grundlage einer sensiblen Balance geschaffen. Politische Stabilität bedeutet keine Mehrdeutigkeit, zumindest wenn es um die Gesellschaft und die Wirtschaft geht.
 Gül und Erdogan aa.jpg
Jetzt keine übereilten Schritte wagen!

Eine geringfügige Änderung im politischen System könnte allerdings ausreichen, um die Türkei auf eine möglicherweise niemals endende Straße der Instabilität und dadurch des Niedergangs zu schicken. Vergleichsweise kann natürlich sowohl ein Präsidialsystem als auch ein parlamentarisches System gleichermaßen demokratisch sein, je nach den geltende Bedingungen und der allgemeinen Situation.

Die Präsidentschaftswahl in der Türkei wird jedoch von vielen einfach als eine Möglichkeit für die aktuellen Machtinhaber angesehen, die Macht, die sie bereits besitzen, weiter auszubauen. Niemand redet von der nötigen Gewaltenteilung, die in dieses System einbezogen werden soll. Deshalb ist dieser Systemwechsel nicht so einfach wie ein Umbau des Büros des Premierministers zum Büro des Präsidenten; vielmehr heißt es, das System von Grund auf zu verändern. Der Wechsel zu einem anderen System kann bei der Lösung einer Krise helfen. In diesen Tagen aber konzentrieren sich die Debatten hauptsächlich auf die Autoritäten und Machtbefugnisse des Präsidenten. Niemand erwähnt die absolute Notwendigkeit der Überprüfung der gesamten Verwaltung, die ebenfalls nötig wäre, wenn ein neues Präsidialsystem eingeführt würde.

Derzeit fehlen der Türkei die Voraussetzungen für eine Krise im System, aber auch für einen Systemwechsel. Darüber hinaus sind wir derzeit in einer sensiblen Phase, in der eine Lösung für die kurdischen Probleme gesucht wird. Kurz gesagt erlauben es die aktuellen Bedingungen der Türkei einfach nicht, eine Periode des Systemwechsels einzuläuten, was bedeutet, dass die gesamte Debatte über ein solches System taktisch modifiziert werden sollte.

Autoreninfo: Mümtazer Türköne, geb. 1956 in Istanbul, vollendete 1990 sein Doktoratsstudium an der Politikwissenschaftlichen Fakultät der Universität Ankara und arbeitet jetzt als Autor und Journalist. Er ist Kolumnist der „Zaman“.