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Politik

Karagöz gegen die Mächtigen – Puppentheater als Spiegel der Gesellschaft

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Seit fast 500 Jahren schaut die Schattentheater-Puppe Karagöz den Mächtigen in der Türkei auf die Finger. Puppenmeister beklagen, das werde in der Türkei von heute immer schwieriger. Dennoch bleibt Karagöz der Held – besonders für Kinder.

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Vorsichtig hebt Ercan Aksakal die kolorierte Schattenfigur hoch, begutachtet die Schnitte fachmännisch. Es ist ein Modell für Karagöz (Schwarzauge), den Hauptprotagonisten und Publikumsliebling des türkischen Schattentheaters. Hinter Leuchtschaukästen sind zahlreiche weitere Figuren ausgestellt. „Die Laune des Puppenmachers ist in jeder Figur sichtbar“, sagt Aksakal. „Diese hier ist etwas zu traurig geraten.“

Einige Rollen geglättetes, gehärtetes Leder liegen vor ihm auf dem Tisch. „Rind, nicht Kamel“, erklärt er. Kamelleder sei im Moment einfach zu teuer. Aksakal ist Museumsleiter des Karagöz-Museums in der westtürkischen Metropole Bursa und Meister im Anfertigen von Karagöz-Figuren und dem Schattenspiel.

Das Schattentheater war vor allem im osmanischen Reich beliebte Unterhaltung und wurde in Palästen, aber auch in Kaffeehäusern aufgeführt. Hauptfiguren sind Karagöz, ein derber und bauernschlauer Mann aus dem Volk, und sein hochnäsiger Nachbar Hacıvat, der gebildete Städter, stets auf seinen Vorteil bedacht.

„Das Theater karikiert und überspitzt“, sagt Aksakal. „Die Figuren waren ein Querschnitt der osmanischen Gesellschaft in Istanbul.“ Neben einem Dandy, einem Opiumraucher, einem Griechen und vielen anderen gibt es aber auch fantastische Figuren und Dämonen.

Noch während Aksakals Kindheit kamen nur Städte in den Genuss der Vorführungen. Bewohner auf dem Land mussten mit Hörspielen vorlieb nehmen, in denen die Karagöz-Geschichten erzählt wurden. Auch Aksakal, der in einem Dorf an der Schwarzmeerküste aufwuchs, kam zuerst über den staatlichen Radiosender TRT mit Karagöz in Berührung. „Wir hatten ein Transistorradio, das meine Tante aus Deutschland geschickt hatte. Mein Vater wurde immer wütend, wenn die Batterien leer waren, weil ich heimlich den Hörspielen gelauscht hatte“, sagt er und lacht dabei. „Seitdem haben mich Karagöz und Hacivat in meinem Leben begleitet.“

Staatlich gefördertes Kulturgut

In seinem kleinen Atelier liegen verschiedene Werkzeuge bereit, die der Meister für das Herstellen der Figuren benötigt. Besonders hängt er an einem Messer, mit dem die Lederstücke zu Karagöz-Charakteren werden. Früher habe man diese Ledermesser überall in Bursa kaufen können, sagt er. „Doch da es kaum noch professionelle Schattenspielmeister gibt, lohnt es sich für Messermacher nicht mehr, sie in der Masse herzustellen.“

Um die Kunst am Leben zu erhalten, finanziert das türkische Kulturministerium inzwischen Kurse für angehende Schattenspielmeister – und das Interesse ist groß. „Es bewerben sich 60 Leute auf einen Kurs, der nur für 15 Teilnehmer Platz hat“, sagt Aksakal. Ein Junge schaut schüchtern zur Tür des Ateliers herein. Der Meister bittet den spontanen Besucher um seine Meinung. „Darf ich dir meine neue Figur zeigen?“, fragt Aksakal. Er arbeite gerade an einem Gespenst und wolle sichergehen, dass es nicht zu gruselig geraten sei.

„Ich versuche, die Figuren für meine Stücke zusammen mit den Kindern zu entwickeln, weil sie ihnen ja gefallen sollen“, sagt Aksakal. „Das Karagöz-Theater steht und fällt mit den Zuschauern. Ein Meister, der sein Publikum nicht begeistern kann, ist keiner.“

Şinasi Çelikkol, einer der bekanntesten Karagöz-Meister in Bursa, bedauert jedoch, dass die Stücke nur noch für Kinder aufgeführt werden. „Karagöz ist als Spiegel für eine Gesellschaft gedacht. Er darf alles sagen, alles kritisieren. Die Stücke waren eine Möglichkeit für die Leute, sich ihrem Ärger Luft zu machen. An ihrer Stelle konnte Karagöz den Mächtigen die Meinung sagen“, sagt er.

Satire und überspitzte Darstellungen waren dabei fester Bestandteil. Auch Kritik an der Obrigkeit und sexuell anzügliche Szenen gehörten zum Karagöz-Theater. Die Meinungen darüber, wie politisch Karagöz zu osmanischen Zeiten wirklich war, gehen auch heute noch auseinander. Da die lange Zeit nur mündlich überlieferten Karagöz-Texte ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend schriftlich festgehalten wurden, waren auch die Behörden schneller mit der Zensur-Schere zur Stelle, um unerwünschte Zoten und Kritik zu entfernen.

Doch die Figur des derben Schwarzauges als der kleine Mann aus dem Volk, der sich den Mund nicht verbieten lässt, hat sich in der Wahrnehmung durchgesetzt. Der bekannte türkische Autor Aziz Nesin, Meister der Satire, verfasste mehrere Karagöz-Stücke. Ein von 1908 bis in die 1950er Jahre erschienenes politisches Satire-Magazin wurde nach dem subversiven Helden benannt. Das türkische Arbeiterfilmfestival führt Karagöz, gekleidet in Blaumann und Schutzhelm, neben Charlie Chaplin auf seinen Plakaten.

Die Geschichte wiederholt sich

Zensur ist auch heute ein Problem, wie ein bekannter Karagöz-Meister, der aus Angst vor Repressalien anonym bleiben will, beklagt. Seit einigen Jahren traue er sich nicht mehr, das Schlitzohr auf der Bühne alles sagen zu lassen. „Ich halte mich jetzt bei Vorführungen zurück, weil man nie weiß, ob mich nicht jemand im Publikum bei den Behörden verrät.“ Er verweist auf die zahlreichen Gerichtsverfahren wegen Beleidigung von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan. „Er ist ein schlimmerer Zensor als die osmanischen Sultane“, sagt er.

Doch Zensur war nicht immer der einzige Weg, der Satire die Zähne zu ziehen. Nach der Gründung der türkischen Republik 1923 versuchte die Regierung, den subversiven Karagöz für Propagandazwecke zu zähmen und die Bürger mithilfe des Schattentheaters zu modernen, gebildeten und tugendhaften Türken umzuerziehen. Der Versuch, die geliebte Figur zum Vorbild der türkischen Modernisierung zu machen, scheiterte jedoch.

„Diese Stücke haben eigentlich immer nur auf dem Papier existiert und wurden vielleicht ein- oder zweimal aufgeführt“, sagt Cengiz Özek, der Leiter des Istanbuler Puppentheaterfestivals und selbst ein international bekannter Karagöz-Künstler. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass Behörden Karagöz für sich entdeckten.

„In Dänemark versuchte man zusammen mit türkischen Arbeiterverbänden in den 1990er Jahren, Türken im Land mit diesen Aufführungen zur Heimkehr zu bewegen“, erzählt Özek. „Dort hofften die Veranstalter, Karagöz würde die Sehnsucht nach der eigenen Kultur wecken.“ Hat es funktioniert? Er lacht. „Nein, aber ich habe gut verdient und Karagöz hat in Dänemark ein neues, begeistertes Publikum gefunden.“

Der Leiter des Puppentheaterfestivals ist über das Scheitern nicht überrascht. „Karagöz ist nicht dazu da, die Leute zu manipulieren. Karagöz soll unterhalten und die Zuschauer für 45 Minuten in den Bann schlagen“, sagt Özek. Seit vielen Jahren ist er mit seinem Schattentheater auf der ganzen Welt unterwegs, reist zu Festivals in Indien, Deutschland, Frankreich, Indonesien oder Polen.

Ausgerechnet in der Türkei, in der am 15. Oktober in Istanbul das internationale Puppentheaterfestival beginnt, hat Karagöz inzwischen Schwierigkeiten, ein großes Publikum zu erreichen – auch wenn jedes Kind den rebellischen Schwatzkasper kennt. Fernsehen und Internet haben Karagöz verdrängt. Nächstes Jahr feiert das Schattentheater seinen 500. Geburtstag – 1517 wurde es zum ersten Mal in Istanbul aufgeführt. Özek hofft, dass das gewürdigt wird. „Schattentheater bringt Menschen zusammen. Gibt es etwas Schöneres?“ (Constanze Letsch, dpa/dtj)