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Gesellschaft

„Keine Gefahr mehr, in Diyarbakır Armenier zu sein“

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Der argentinische Journalist Hadjian behauptet in einem Artikel, es gäbe in der Türkei hunderttausende Armenier, die ihre Identität nicht preisgeben würden. Mit ihrer Identität gehen sie höchst unterschiedlich um. (Foto: zaman)

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„Keine Gefahr mehr, in Diyarbakır Armenier zu sein“
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Der 100. Jahrestag des angeblichen türkischen Völkermords an den Armeniern rückt näher, und nach der Wiederwahl des armenischen Präsidenten rückt das Thema auch wieder in den Fokus der Medien. In den Wirren des Ersten Weltkriegs sollen im damaligen Osmanischen Reich tausende Armenier gezielt verschleppt, zwangsumgesiedelt und ermordet worden sein. So lautet jedenfalls der Vorwurf einiger europäischer Staaten wie Frankreichs, der allerdings von der Türkei zurückgewiesen wird. Jetzt beschäftigt sich auch die argentinische Presse mit dem Thema. Der vom argentinischen Journalisten Avedis Hadjian geschriebene Artikel „Die Spuren der heimlich in der Türkei lebenden Armenier“ stellt die These auf, dass in Anatolien und Istanbul Hunderttausende Bürger armenischer Herkunft leben, dabei allerdings ihre armenische Identität verheimlichen würden.

Hadjian reiste für seine Recherche eigens in die Türkei. Die erste Station seiner Reise führte ihn dabei nach Istanbul. In einer Konditorei in Kurtuluş, einem Treffpunkt armenischer Sinti und Roma, habe ihn ein älterer Mann gefragt, wer er sei und ob er sich in der Türkei auskenne. Nachdem er es zunächst einmal sich selbst eingestanden hatte, fügte Hadjian hinzu, dass er das Land nicht so gut kenne. Dann schilderte der alte Mann, dass in der Türkei – die Armenier inklusive – niemand wisse, wer er und seinesgleichen in Wirklichkeit wären.

Der Legende zufolge gäbe es in der Türkei eine Minderheit, die man als „verdeckte Armenier“ bezeichnen könne und die seit ungefähr einem Jahrhundert ihre eigentliche Identität verstecken würde. Sie würde hauptsächlich in den östlichen Provinzen leben, unter Annahme der verschiedenen Doktrinen des Islam wie des Sunniten- oder Alevitentums, offiziell mit türkischer oder kurdischer Identität leben. Dennoch führe eine kleine Gesellschaft in den Dörfern Sasons, der Kreisstadt Batmans, ihre Christenheit fort.

Die verdeckten Armenier verheimlichen ihre Identität sogar gegenüber den armenischen Bürgern

Hadjian hebt die Tatsache hervor, dass niemand die Anzahl der verdeckten Armenier genau kennt. Er könne bezeugen, dass sich viele Armenier fürchten, ihre Identität zu offenbaren. Ein verdeckter Armenier aus Palu habe gesagt: „Die Türkei ist für die Armenier immer noch ein gefährlicher Ort.“ Jene Armenier, die mit unterschiedlichen Identitäten verdeckt leben, vermeiden es, selbst zu armenischen Mitbürgern, die mit ihren Identitäten offen leben, Beziehungen zu knüpfen. Mit Fremden nehmen sie generell keinen Kontakt auf. Hadjian erzählt, dass ein Teil der verdeckten Armenier, trotz des Wissens darüber, dass ihre Großväter oder ihre Eltern Armenier sind und obwohl sie von ihren türkischen und kurdischen Nachbarn als Armenier oder Ungläubige benannt werden, ablehnen würde, dazu zu stehen. Einige würden diese Wahrheit sogar vor ihren eigenen Kindern verheimlichen, obwohl sie ihre Identität akzeptiert hätten.

Es wäre überhaupt nicht leicht zu erkennen, ob jemand ein verdeckter Armenier ist. Hadjian stellt unterschiedliche Beispiele vor: Der als letzter Armenier in Amasya bekannte, nach dem christlichem Glauben erzogene Rafel Altıncı, der auch mit Hrant Dink die gleiche Schule besuchte, ist zum Islam konvertiert, hat ein türkisches Mädchen geheiratet und seine eigene Tochter als Türkin erzogen. Erst viele Jahre später hat er seine armenische Identität akzeptiert. Jazo Uzal, der in einem Dorf von Muş lebt, führt, nachdem er den Winter, die Kirche besuchend, in Istanbul verbracht hatte, nach seiner Rückkehr ins Dorf die Gebete eines Muslims, einschließlich des Fastens, fort.

„Dass ich ein Sunnit bin, führt nicht dazu, dass ich mich als weniger armenisch wahrnehme“

Dann gibt es auch Beispiele wie den Anwalt Mehmet Arkan aus Diyarbakır, der bis zu seinem siebten Lebensjahr ohne das Wissen, dass seine Familie armenisch ist, aufgewachsen war – bis er mit seinem kurdischen Freund in der Nachbarschaft eine Auseinandersetzung hat. Als er seinem Vater die Situation erklärte, wurde ihm mitgeteilt, dass das, was über seine Familie erzählt wurde, stimmt, doch er es niemandem mitteilen dürfe. Bis zum Ende der 60er-Jahre wurde das Hab und Gut der armenischen Dorfbewohner von den Kurden in Besitz genommen, ihre Töchter wurden entführt. Um dagegen anzukämpfen, hatten sich die Armenier bewaffnet und zeitweise gab es auch heftige Auseinandersetzungen, so Arkan, der – auf die restaurierte Surp-Giragos-Kirche als Beispiel zeigend – noch mitteilt: „Bis vor 10 Jahren hatten wir noch vor jedem unsere Identität verheimlicht, doch nun ist es keine Gefahr mehr, in Diyarbakır ein Armenier zu sein.“ Seine sunnitische Existenz und die Verrichtung des muslimischen Gebetes würden nicht dazu führen, dass er sich als weniger armenisch wahrnehmen würde, erklärt Arkan.

Ein Imam und ein Erzbischof – aus der gleichen Familie

In einigen Situationen hat die verdeckte armenische Identität auch unerwartete Wendungen hervorgebracht. Zum Beispiel ist der Ogasya-Stamm aus dem Dorf Bagu von Palu – welcher die Ereignisse in 1915 heil überlebte – nach Rhode Island, USA, immigriert. Der kleine Sohn der Familie, Kirkor, den ein kurdischer Stammesführer zur Arbeit auf dem Feld entführte, wurde später seitens des Großgrundbesitzers mit der verwaisten Zerman verheiratet. Beide zogen zusammen in ein Dorf von Palu und nahmen den Islam und türkische Namen an. Sie vollzogen sogar die Pilgerfahrt nach Mekka. Jahre später nehmen die Verwandten in den USA mit Kirkor und Zerman Kontakt auf. Jetzt ist ein Enkel von Kirkor und Zerman ein Imam in einer Moschee in Harput und Oshayan Cloyoyan, ihr Neffe zweiten Grades hingegen ist ein Erzbischof in einer armenischen Kirche in New York.

In seinem Artikel über die verdeckten Armenier in Tunceli spricht Hadjian ebenfalls über ein Ereignis in Sason, das er selbst erlebte. In Sason, der Kreisstadt in Batman, wo sie ihre Unterkunft haben, hat sich eine Karawane zum heiligen Ort auf den Berg Raman auf den Weg gemacht, um sich zu bekreuzen. In der armenischen Karawane gab es ein 6- bis 7-jähriges Mädchen, das auf dem Rücken einen weißen Sack trug. Als sich dieser Sack durch den Wind drehte, sah Hadjian das Kreuz und näherte sich, um es zu fotografieren. Das kleine Mädchen, das ihr Gesicht mit ihrem Tuch verdeckte, um Sichtkontakt zu vermeiden, antwortete auf die Fragen „Bist Du Armenierin, gibt es Armenier in Deiner Familie?“ mit „Wir sind Muslime.“