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DTJ-Blog

Merve, ich hoffe Du bekommst diese Zeilen zu lesen!

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Die meisten Frauen haben es nicht so mit Mathe. „Blödsinn, das sind unsinnige Vorurteile“, reagiert die neu kennengelernte, leicht verärgerte, kopftuchtragende, und auf Lehramt studierende Schwester mit dem Namen Merve zurück. Ich lächle freundlich, um die Wogen wieder zu glätten. „So ist es nicht gemeint, bin nur neugierig, wieso auf Lehramt?“, frage ich dezent. „Wieso nicht, kann es denn etwas Besseres geben? Du bereitest junge Menschen auf das Leben vor, du vermittelst ihnen Wissen und baust die Basis auf eine positive, früchtetragende Zukunft. Wir haben eine Verantwortung als Pädagogen, wir sind gleichzeitig Eltern dieser Kinder!“

Sie strahlt bei diesen Worten wie ein Honigkuchenpferd und erscheint wie das glücklichste Wesen der Galaxie. Große erfüllende Freude tut sich in mir auf bei diesen erkenntnisreichen und wahrhaftigen Worten, die wie exzellente Naturlandschaftsaufnahmen eines Dokumentationsfilms imponieren. „Unser Glaube ist die Antwort auf alle Fragen und Widrigkeiten des Lebens. Du bist ja auch Muslim, unsere Religion verpflichtet uns dazu. Es gibt zahlreiche Verse die uns das auftragen. Der Islam ist meine Kerze in völliger Dunkelheit, sie ist meine Inspirationsquelle“, offenbart sie poetisch und voller Tatendrang.

Ich hörte ihr sehr gerne während unserer zweistündigen Konversation zu. Sie hatte eine sehr angenehme und liebenswürdige Art, deren Worte bei mir zweifelsohne lange in Erinnerung bleiben werden. Merve hatte die seltene Eigenschaft, auch fremden Menschen, die sie nicht kennen, das Gefühl der Geborgenheit und Nestwärme zu geben. Unterschiedliche Menschen, deutschlandweit, würden ohne irgendeine Skepsis der jungen, selbstbewussten, muslimischen Dame ihre Kinder anvertrauen. Man muss kein Sigmund Freud sein, um das zu sehen. Man sah es ihr an, sie hatte es einfach, sie hatte das Wesentlichste, was eine Lehrperson braucht: Leidenschaft!

GEPLATZTER TRAUM!

Jedoch gab es da etwas, was mich antippte und ich nicht gänzlich verstand. „Wie ist es mit diesem Gesetz?“, frage ich. „Was meinst du?“ erwidert sie. „Dieses sogenannte Neutralitätsgesetz, Frauen mit Kopftuch dürfen ja hier in Deutschland nicht unterrichten.“ Sie guckt etwas argwöhnisch und gelockert. „Ich weiß nicht, was du meinst“. Ich halte kurz inne und erspähe verwundert ihre Unwissenheit über dieses Gesetz, das scharenweise Menschen über ein ganzes Jahrzehnt diskriminiert, polarisiert und in Wirklichkeit auf scheinheilige, subtile Art und Weise hinters Licht geführt hat. „Also das Gesetz besagt, dass Frauen mit Kopftuch nicht unterrichten dürfen“.

Merve sagt nichts und guckt mir prüfend in die Augen, hoffnungsvoll, dass mein Satz gelogen oder nur ein Scherz ist. Ich schenke ihr schweigsam und behutsam ein Gesichtsausdruck, der Gewissheit in diese Thematik bringt. Sie greift dennoch zu ihrer Handtasche und holt ihr iPhone raus, recherchiert, googelt, liest sogar in Wikipedia einige Passagen hastig nach.

Ich fühlte mich unwohl, da ich die Sache nicht besonders schlau lanciert hatte. Als auch mir eine Vorahnung schwebte, was passieren könnte, fing ich an, Schuldgefühle zu bekommen, die bis heute kräftig an meinem Gewissen nagten. „Sie weiß es wirklich nicht!“, schoss mir durch den Kopf. Währenddessen stellt sie fest, dass meine Worte der Wahrheit entsprechen. Ab hier wirkte die ganze Situation surreal und zischte in Sekunden dahin. Die nächsten Momente sind für sie eine Horrorvorstellung und unerträglich. Sie blickt ins Leere, ist geistig weit weg und nicht mehr zu orten. Die Augen reflektieren ein in tausend Stücke zerfetzten Lebenstraum, die wie Scherbenhaufen auf dem Boden dahinvegetieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, ist eine Gabe mit Passion aus dem Fenster geschleudert worden. Augenblicke größter Trauer, Wut und Hoffnungslosigkeit ziehen bei diesem sekundenschnellen Wechselbad der Gefühle wie ein starkes, unaufhaltsames Lauffeuer um sie herum. Als hätte man ihr einen lebenswichtigen Teil der Seele amputiert. Sie packt ihre Sachen fieberhaft und verlässt, ehe ich einen Gedanken bändigen kann, fassungslos mit Tränen in den Augen die Räumlichkeit.

Empathie!

Dieses Ereignis, das an einen melodramatischen Türkan Şoray-Film aus den Siebzigern erinnert, geschah knapp vor zwei Jahren. Seither hab ich Merve, die nicht mehr die Universität besucht, nie wieder gesehen. Oft habe ich gehofft, ihr zufällig auf den Straßen Berlins zu begegnen oder sie auf den sozialen Netzwerken aufzulesen. Heute schreibe ich diese Geschichte, die ich viel zu lange mit mir getragen habe, in der Hoffnung, dass sie das liest, um ihr zu sagen „Hey Merve, sieh mal, es ist vorbei, die Gerechtigkeit, sie hat gesiegt, jetzt steht deinem Traum nichts mehr im Wege.“

Ich würde mir wünschen, dass solche von Trostlosigkeit erfüllten Erfahrungen und Geschichten auch Nichtmuslime und Politiker erreichen, wie Pegida-Sympathisanten, die in Bezug auf das Kopftuch leider nichts positives sehen oder abgewinnen können. Oder dem ehemaligen, verbitterten  Bürgermeister Neuköllns, Heinz Buschkowsky, der bewiesen hat, dass das Kopftuch noch lange nicht die Akzeptanz und Achtung bekommt, die es verdient. Vielleicht liegt das einfach daran, dass sie nicht verstehen, dass man amputierte Seelen nicht mit Prothesen ersetzen kann. Vielleicht liegt das daran, dass sie leider nicht verstehen, dass das Kopftuch nichts weiter als ein einmal ein Meter langer Stoff Fetzen ist.

Vielleicht liegt es daran, dass sie nicht verstehen, dass mit „Der Islam gehört zu Deutschland“ auch das Kopftuch mit impliziert und dass das eine ohne das andere wie ein fünfhundert PS starker Ferrari ohne Karosserie und Reifen ist. Vielleicht sollten sie einfach nur mehr Mitgefühl für Menschen wie Merve zeigen. Aber als Person, mit viel zugeschüttetem Realismus, als Student der Politik, der mehr oder weniger die unglücklich machende Denkweisen einiger Politiker sehr gut versteht, bezweifle ich sehr stark, wie viele andere sicherlich auch, dass bei deren Mentalität irgendetwas Positives zu ändern, oder abzugewinnen ist. Jedenfalls bin ich ganz fest davon überzeugt, dass das Fundament für den sozialen Frieden dieses Landes auf Einigkeit, Recht, Freiheit und Empathie beruht. Und dafür werden Menschen wie Merve kämpfen, und zwar mit Leidenschaft ;)