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Politik

„Wir dachten, es würde wieder wie vorher“

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Im kollektiven Gedächtnis der Krimtataren haben sich die Gräuel der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion fest eingebrannt. Daher auch die Angst vor einem „Anschluss“ der Halbinsel an Russland. Auf Spurensuche auf der Krim. (Foto: reuters)

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Krimtataren nach dem Gebet in einer Moschee in Bahcesaray.
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Kamenka in der Ukraine, oder vielleicht auch „Noch-Ukraine“: Die Hände Ufeyn Fakhreevs tragen die Narben des Exils aus der Sowjetära. Seine Hände lieben es, die Tische in seinem Haus zu streicheln, das er nach seiner Rückkehr auf die Krim gebaut hat. Und seine Hände zittern, wenn das Gespräch auf die derzeitige angespannte Lage in der Ukraine kommt.

„Ich habe nie gedacht, dass das passieren könnte“, erzählt Ufeyn. „Ich habe so etwas noch nie erwartet und ich habe viel gesehen. Ich habe unter dem Dach von 14 Staaten gelebt. Ich wurde 1921 geboren. 1939 trat ich der Armee bei. Ich kämpfte den gesamten Krieg hindurch. Ich wurde fünf Mal verwundet.“

Als Ufeyn geboren wurde, war Lenin noch am Leben. Er kletterte wild die Kirschbäume hoch, als Stalin die Zwangskollektivierung anordnete. Ufeyn hat die Hälfte seines rechten Mittelfingers im Zweiten Weltkrieg an der Front verloren.

Diese Woche, als russische Soldaten die ukrainische Militärbasis auf der Krim umzingelt und den Berichten zufolge die sofortige Überlassung gefordert haben sollen, zog das Vorbeben eines Krieges über die Halbinsel am Schwarzen Meer. Der von den euronationalistischen Putschisten in Kiew ausgerufene und vom Westen als legitim anerkannte Präsident der Ukraine, Oleksandr Turchynov, bezeichnete die Präsenz russischer Verbände als „Provokation“ und die politischen Führer der westlichen Welt drängten verzweifelt nach einer Antwort auf die Krise.

Vielleicht hat keiner mehr zu befürchten in dieser Krise mit Eskalationspotenzial als Krimtataren wie Ufeyn. Die Krimtataren gehören zu den unglückseligsten Nationen der Welt, deren Geschichte durch scheinbar zyklische Episoden von Unterwerfungen und Vertreibungen gekennzeichnet ist. Als muslimische ethnische Minderheit mit angestammten Wurzeln auf der Krim, die sogar noch bis vor die Zeit der russischen Zaren zurückreichen, bezeichnen sich die Tataren selbst als eine der eingeborenen Völker der Halbinsel, die von einer kaum noch entzifferbaren Mischung aus Griechen, Franken, Juden, Aramäern, Italienern, Türken und Mongolen abstammen. In der Mitte des 14. Jahrhunderts bildeten sie ein unabhängiges Khanat aus den Restbeständen der Goldenen Horde und lebten in relativem Frieden, bis Katharina die Große 1780 die Krim an das Russische Reich angliederte.

Massenmorde und Vertreibungen während der Stalin-Ära

Nachdem die Kommunisten an die Macht gekommen waren, litten die Tataren unter schwersten Formen der Ausplünderung und die Hälfte ihrer Bevölkerung wurde seit Beginn des Zweiten Weltkrieges vertrieben oder getötet. Da während des Krieges eine Handvoll Tataren mit den Nazis zusammengearbeitet hatte, meinte Stalin 1944 genug Gründe zu haben, um die komplette tatarische Bevölkerung in den Gulag einzuliefern oder nach Zentralasien zu vertreiben. Nur die Perestroika und der bevorstehende Kollaps der Sowjetunion ermöglichten den Tataren den Anfang für ihre langsame Rückkehr nach Hause.

„Wir dachten, dass es wieder wie vorher wird, aber nein“, sagt Ufeyn, als er eine der 21 Medaillen anpasst, die seinen navy-blauen Blazer schmücken. „Als wir zurückkamen, war die Regierung nicht organisiert, sie konnte keine Bewilligungen herausgeben. So begannen alle, Land zu finden und darauf aufzubauen. Wir nannten es samo-vozvrat (Subsistenzwirtschaft).“

Nun machen die Tataren gemäß der letzten Volkszählung in der Ukraine zwölf Prozent der Bevölkerung von Krim aus. Die meisten von ihnen leben in kleinen Dörfern, die von den umgesiedelten Einwanderern aufgebaut wurden. Trotz des derzeitigen Rückgangs der ethnischen Konflikte mit den um sie herum lebenden Russen haben die Tataren kein Interesse, wieder in den russischen Staatsverband zurückzukehren.

In der Krim-Hauptstadt Simferopol zeigen die ethnischen Russen dominierende Präsenz auf den Straßen, seitdem die Krise begonnen hat. Sie zelten unter der dreifarbigen Flagge und dem Gesang: „Russland, Russland, Russland!“ Während die meisten der Pro-Russland-Demonstranten darauf beharren, dass die zwischenethischen Beziehungen in Krim friedlich seien (und sie haben damit meist Recht), ignorieren sie das Ausmaß, in dem die Tataren die russische Regierung verabscheuen.

Krimtataren wähnen sicher unter Euronationalisten im fernen Kiew sicherer

Am 26. Februar weiteten sich die Spannungen aus in heftige Zusammenstöße zwischen Tataren und Russen außerhalb des Krim-Parlaments. Die Zusammenstöße endeten mit einigen Verletzten, eine Mahnung, wie einfach ein sorgfältig abgestimmtes, politisches Theater in Gewalt abrutschen kann.

„Europa fürchtet Russland und Russland fürchtet Europa. Das ist das Problem“, erklärt Ufeyn. „Nach dem Ende der Sowjetunion haben 15 Länder den früheren Staatsverband verlassen. Zugleich sind 18 Länder der EU beigetreten. Und nun möchten Teile der Ukraine, des nächsten Nachbarn, Russland ebenfalls verlassen. Russland hat Angst, seinen Einfluss zu verlieren.“

Um die tatarische Community zu finden, muss man eine der vier langen Hauptstraßen befahren, die aus Simferopol wegführen, während man nach den Minaretten der Moscheen über den niedrigen Dächern der ländlichen Häuser Ausschau halten muss. Entlang der P-23-Autobahn außerhalb des Dorfes Kamenka haben sich Mengen von Frauen und Kindern zu einer Anti-Kriegskundgebung versammelt. Sie sprechen sich für die Oppositionsregierung aus, die auf dem Maidan die Macht ergriffen hatte, und für eine ukrainische Krim; sie bezeichnen Putin als „Diktator, Wahnsinnigen und Tyrannen.“ Viele verloren in ihrem Entsetzen jedes Maß.

„Wir gehen schlafen, ohne zu wissen, wie wir morgen aufwachen werden. Wir haben keine Antwort“, sagt die 35 Jahre alte Elmira Mololiova mit tränenverquollenen Augen, als sie zu ihrer jüngeren Tochter hinabblickt. „Putin sagt, dass er die Russen verteidigen wird, aber vor wem verteidigt er sie denn? Ich sehe meine russischen Nachbarn täglich, wir trinken zusammen Kaffee und leben als Freunde.“

Als diejenigen, die sich versammelten, sangen: „Wir sind für Frieden!“, sahen ein paar ukrainische Polizeibeamten ziellos in die Leere (in Moskau wurden  im Gegensatz dazu ein Dutzend bei Anti-Kriegsprotesten am Wochenende verhaftet). Außerhalb von Kamenka wehen die Demonstranten mit blauen und gelben Ballons – in den Farben der ukrainischen Flagge- und halten einen Galerie von handgemachten Schildern in die Höhe:

„Kein Krieg!“

„Die Liebe wird den Tod und die Gewalt besiegen!“

„Putin! Hände weg von der Ukraine!“

Ich habe zwei von Ufeyns Töchtern getroffen, Eminye und Taire Fakhreeva, mitten in der Menge. Sie tragen beide beinahe identische lilafarbene Pullover und sie scheinen geschockt darüber zu sein, dass sie hier stehen und für Frieden protestieren müssen. Sie haben sich niemals vorstellen können, dass sie Russland noch einmal abwehren müssen, das Land, das sie mit Traumata aus der Vergangenheit assoziieren.

„Wir haben keinen, der uns beschützt“

„Wir haben nur diesen Platz“, sagt Taire, 60. „Sie haben unsere Eltern über die Nacht ausgewiesen, sie einfach so verschleppt. Und nun sind wir zurück. Wir können nirgendwo anders hin und haben keinen, der uns beschützt.“

Für viele Tataren, wie für die Fakhreevs auch, begann die Krim sich wieder wie ein Zuhause anzufühlen.

„Wir haben hier in den letzten Jahren tatsächlich Wurzeln entwickelt“, sagt Eminye, 62. „Es gab hier leere Felder, als wir 1990 ankamen. Wir lebten anfangs in Bunkern und Zelten. Und unsere Häuser bauten wir im Laufe der letzten 24 Jahren mit unseren eigenen Händen.“

Das Haus der Fakhreevs steht an einem Feldweg in Kamenka, von der Autobahn abgeschnitten und einige Minuten von der Anti-Kriegskundgebung entfernt. Geräumig, mit einem langen Eintrittsflur und höhlenartigem Wohnzimmer, bietet es neun Familienmitgliedern ein Zuhause, über drei Generationen.

„An diesem Morgen sagte ich ihnen, dass sie den Keller bereitmachen sollten“, scherzt Ufeyn. „Bald werden wir dort leben müssen.“

Als wir um den Tisch der Fakhreevs saßen, Tee tranken und getrocknete Früchte aßen, bildete Ufeyn eine kleine Pyramide aus den Dattelboxen.

„In den letzten Jahren habe ich gesagt, dass wir im Paradies leben würden. Wir haben ein Haus, wir haben Renten, wir können alles auf dem Markt kaufen, was wir wollen“, sagt Ufeyn, indem er auf die Teller zeigt, die vor uns liegen. „Aber nun das, wieder dieser Ärger…“

Er reibt langsam die Hände zusammen, als wolle er sichergehen, dass sie nach all diesen Jahren immer noch hier sind.