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Kolumnen

Was Erdoğan verdeckt

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Eine Krise erschüttert die Türkei. Der anfängliche Korruptionsskandal weitete sich zur Staatskrise aus. Erdoğan ist nicht Teil der Lösung. Das eigentliche Problem ist er aber auch nicht. Dieses sitzt tiefer in der türkischen Gesellschaft.

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Mittlerweile dient unsere Redaktion auch als eine Art psychotherapeutischer Praxis für viele AKP-Sympathisanten: Viele rufen an, schimpfen, laden ihren Unmut ab und legen dann auf, wobei wir stets auf verständnisvolle Zuhörer umschalten. Neulich rief wieder ein AKP-Sympathisant in der Redaktion an und schimpfte, wie so oft in letzter Zeit: „Wie könnt ihr die CHP unterstützen? Schämen solltet Ihr Euch! Verräter seid Ihr alle! Ihr werdet aber die beste Antwort bei den nächstmöglichen Wahlen als eine schallende Ohrfeige erhalten.“ Dann legt er auf.

Manche sagen vorher „Auf Wiedersehen“, manche legen aber auch einfach so auf. Solange sie nach dem Anruf sich besser fühlen als davor, finde ich das ok. Aufgeregte Bürger haben das Recht, auch mal die Meinung sagen zu dürfen, anstatt ständig die Meinung der Redaktion zu lesen. Es ist wohl auch für beide Seiten von Gewinn. Sie erleben eine preiswerte Ersatzbefriedigung, wir haben neue Erkenntnismöglichkeiten.

Die CHP unterstützen – warum nicht?

Diese Anrufe geben einem zu denken: Unterstützen wir tatsächlich die CHP, die derzeitige Oppositionspartei kemalistischer Prägung? Es spricht nicht viel dafür. Ich persönlich unterstütze sie nicht, habe gar nicht die Möglichkeit dafür. Ich wähle deutsche Parteien. Andererseits aber: Warum sollte das verwerflich sein? Ist die CHP weniger demokratisch verfasst als die heutige AKP? Handelt es sich bei der demokratischen Auseinandersetzung eigentlich um einen Wettbewerb demokratischer Parteien oder um einen Kampf zwischen Freund und Feind?

Die heutige Türkei hat in der Tat ein Problem: Das politische Klima ist vergiftet. Das Verhältnis des Premierministers Recep Tayyip Erdoğan zu den Oppositionsparteien ist nicht von Respekt, sondern von Häme und Spott geprägt. Aber bei genauerem Hinsehen sieht man auch: Auch wenn Erdoğan viel Wirtschafts- und Medienmacht auf seiner Seite hat, auch wenn er nicht davor zurückschreckt, seine Gegner auch mit den Mitteln staatlicher Institutionen niederzuringen, das eigentliche Problem ist nicht er.

Dilemma der türkischen Politik

Bei anderer Ausgangslage würde er sich sicherlich anders verhalten. Er ist aber nun mal Nutznießer der ausweglosen Situation der türkischen Politik und der derzeitigen Kräfteverteilung. Sie ist klar verteilt, die CHP kommt auf höchstens 25 Prozent der Stimmen, die MHP auf 15-20 Prozent. Durch ihre hemmende Funktion bei der Demokratisierung des Landes haben sie viel Porzellan zerschlagen und Vertrauen verspielt, sodass sie der regierenden AKP nicht gefährlich werden können.

Das Dilemma dabei: Die AKP regiert jetzt nicht nur autoritär, sie stoppte nicht nur die Schritte zur weiteren Demokratisierung, sie ist mittlerweile sogar dazu übergegangen, moderne und grundlegende Errungenschaften wie die Gewaltenteilung auszuhebeln, die Unabhängigkeit der Justiz zur Karikatur werden zu lassen. Die Opposition aber hat keine Möglichkeit, diesen Prozess zu stoppen.

ErdoganZAMAN

Erdoğan ist nicht das Problem

Der beste Garant für die AKP ist die Haltung, die sich beispielsweise in den Anrufen offenbart, wenn Leute uns vorwurfsvoll fragen: „Wie könnt ihr nur die anderen unterstützen?“ Dahinter steckt ein grundlegenderes, tieferes Problem: Das Problem des Misstrauens zwischen Bevölkerungsgruppen, das unklare Verhältnis zueinander.

Die türkische Gesellschaft ist mit der Frage konfrontiert: Wie wollen wir eigentlich zusammenleben? Auf welcher Grundlage wollen wir unser gemeinsames Leben organisieren? Wie soll das Verhältnis zu anderen ethnisch, religiös oder kulturell definierten Bevölkerungsteilen aussehen? Soll das Verhältnis von Vertrauen oder Misstrauen gekennzeichnet sein? Reicht ein Verfassungspatriotismus aus oder bedarf es dazu auch einer Leitkultur? Wenn ja, welcher? Seit der Gründung der Republik wollte der Staat den laizistischen, säkularen „neuen Menschen“ schaffen.

Diese Missachtung des Bürgers hat das andere Extrem zur Folge gehabt: Nun möchte Erdoğan den religiösen „neuen Menschen“ formen.

Die anstehende Frage: Wie wollen wir zusammenleben?

Für Respekt bestehender Unterschiede war und ist in diesen Konzepten nicht viel Platz. Was ist aber mit Menschen, die weder laizistisch noch religiös sein wollen, die sagen, das ist meine persönliche Angelegenheit, da soll sich der Staat heraushalten?

Solange die starke Polarisierung entlang ideologischer Linien anhält, diese Fragen nicht im Sinne einer freiheitlichen Demokratie beantwortet werden können, wo sich jeder Bürger in Sicherheit wiegen kann unabhängig von seiner gesellschaftlichen Position, solange wird das politische Kräfteverhältnis für Erdoğan wohl keine Gefahr bedeuten und er wird Narrenfreiheit haben – mit unabsehbaren Folgen für das Land. Die Kritik an Erdoğan ist heute richtig und berechtigt, doch sollte sie das dahinter stehende Problem nicht verdecken und aus den Augen verlieren lassen.