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Kuzguncuk: Ein anatolischer Lösungsweg für das friedliche Miteinander

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Ein Imam gibt christlichen Besuchern eine Kirchenführung? In Kuzguncuk Normalität. Dr. Mustafa S. Kurşunoğlu über die Herausforderungen, die das Zusammenleben verschiedener Volks- und Religionsgruppen in der globalisierten Welt birgt. (Foto: cihan)

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Kuzguncuk: Ein anatolischer Lösungsweg für das friedliche Miteinander
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Während für das soziale Individuum in der Geschichte zunächst die Treue zu einem Stammesführer oder König maßgeblich war, wandelte sich das personenbezogene Verhältnis in eine Bindung an ein Territorium um und erreichte schließlich die Stufe der ideologischen Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft. Da in diesem Prozess die Kulturen mit ihrer Selbsterneuerung stets hinterherhinkten, entstand eine selbstbezogene, egozentrische Individualität. Die auf den gemeinsamen Erfahrungen der Gesellschaften und den nationalen Identitäten beruhenden Werte lösten sich in diesem zur Individualität führenden Prozess auf. In dieser Epoche, in der die Sicherstellung der persönlichen Interessen als verdientes Recht empfunden wird, befinden sich Kultur und Moral nun auf der Umlaufbahn um Markt und Kapital. Daher sind unsere Menschlichkeit, unsere Demokratie und unsere Freiheiten bedroht.

Solange die Globalisierung als ein soziales Phänomen weiterhin unser gegenwärtiges Leben und unsere Zukunft beeinflusst, müssen wir unsere kulturelle Identität weiterentwickeln und dabei sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft mit einbeziehen. Anstatt wie bisher historische und zivilisatorische Erfahrungen im Hinblick auf die entsprechenden Nationen zu lesen und zu deuten, müssen wir uns nun darüber im Klaren sein, dass sämtliche Zivilisationen Teil der Menschheit sind und von ihren Angehörigen auch im Hinblick auf die gesamte Menschheit wahrgenommen werden sollten. Die Geschichte bietet uns gute Beispiele, an denen wir bei der Lösung dieser Aufgabe orientieren können.

Ebenso wie wir heute eine Globalisierung der Welt in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht erleben, gab es eine Globalisierung im Bereich der Wissenschaft schon während der so genannten abbasidischen und andalusischen islamischen Blütezeit im 12. Jahrhundert und in den Bereichen Recht und Justiz im osmanischen Istanbul, dessen gesamte soziale Aspekte besonders ab dem 16. Jahrhundert hervorzutreten begannen. Die Atmosphäre von Ruhe und Frieden, die in dieser multikulturellen und multireligiösen Stadt herrschte, war vor allem darauf zurückzuführen, dass man den Moment mit Gelassenheit erlebte und der Zukunft mit Hoffnung und Frohsinn entgegensah. Die auf die Zukunft ausgerichtete Struktur der osmanischen Kultur, die in den tief prägenden Erfahrungen der großen Wanderungen entstand, konnte mit ihren Elementen des Wandels und ihrer Fähigkeit zur fortwährenden Selbsterneuerung auf fruchtbare Weise zur kulturellen Produktion genutzt werden. Zum grundlegenden Faktor bei der Herausbildung der osmanischen Zivilisation wurde die Nachfrage, die zu jener Zeit in Form der Suche nach Recht und Gerechtigkeit zutage trat. Auf der Ebene der Stadt und der einzelnen Wohnviertel gelang es, diesen bedeutenden universalen Wert der Epoche und die Werte der verschiedenen Kultur- und Religionsgemeinschaften miteinander zu verbinden.

Synagogen, Kirchen und Moscheen Seite an Seite

Schon ein kurzer Spaziergang am Ufer des Bosporus im Viertel Kuzguncuk, das zum Istanbuler Stadtteil Üsküdar gehört, hält einige Lektionen bereit, die für die ganze Welt von größter Bedeutung sein können. Die Antwort auf die Frage, ob Menschen unterschiedlicher Nationen und Religionen in Frieden zusammen leben können, geben die armenische Kirche des St. Gregor des Erleuchteten und die Kuzguncuk-Moschee, die dort einträchtig nebeneinander stehen. Sowohl Sultan Abdulaziz, der Finanzhilfen für Baumaßnahmen an der Kirche zur Verfügung stellte, als auch die armenische Gemeinde, die Gelder zum Bau der Moschee beisteuerte, handelten ihrem kulturellen Umfeld entsprechend, in dem dieses Verhalten dem Normalfall entsprach. Die Botschaft dieser beiden religiösen Bauten wird noch einmal bestätigt durch die in der Nachbarschaft vorzufindenden, ebenfalls Seite an Seite stehenden Gebäude einer griechisch-orthodoxen Kirche und der jüdischen Großen Synagoge. Die Dimension der Toleranz und des sozialen Friedens, die in Kuzguncuk gelebt werden, zeigt die Tatsache, dass dieser Ort Jahrhunderte lang von den europäischen Juden als letzte Station vor dem Heiligen Land angesehen wurde. Viele von denen, die es nicht bis ins Heilige Land geschafft hatten, wollten hier ihre letzte Ruhe finden.

Kirchenvertreter aus der Schweiz, die eines Tages zu Besuch in der Kirche des St. Gregor des Erleuchteten waren, wollten wissen, ob und wie das Zusammenleben in Kuzguncuk funktioniert. Die Antwort des Kirchenvorstehers Aram Safaryan (r.) ließ die Gruppe staunen: „Ich bin zu spät gekommen, da ich noch etwas zu erledigen hatte. Die Kirchenführung hat der Imam der Kuzguncuk-Moschee übernommen. Entscheiden Sie, wie das Zusammenleben funktioniert.“ Imam Aydın Vatan, seit 20 Jahren Vorbeter der Moschee, fügte hinzu, dass in Kuzguncuk verschiedene Religionen und Nationalitäten friedvoll und in gegenseitigem Respekt koexistieren. Beide waren der Meinung, dass dieses Beispiel in Europa bekannt gemacht werden müsse: „Das, was wir hier erleben, ist Aufrichtigkeit, Freundschaft und ein friedliches Miteinander. Toleranz ist ein Teil aller Religionen. Die ganze Welt würde staunen, wenn ein Imam behauptet, dass er christlichen Besuchern eine Führung in einer Kirche gegeben hat. Sie sollte aber nicht mehr staunen, sondern versuchen, es zu verstehen und sich ein Beispiel daran zu nehmen.“

Wenn man sich mit dem Ziel, das verborgene Geheimnis der erfolgreichen Umsetzung und Anwendung der Kultur des Zusammenlebens in diesem Viertel zu ergründen, in den Seitenstraßen verliert, so schaut einem von den alten Erkern herab der Adel einer Kultur entgegen, die sich die Universalität der menschlichen Werte zur Lebensweise gemacht hat. Wand an Wand reihen sich türkische, armenische, griechische und jüdische Häuser. Weil diese Menschen ihr Leben in Ruhe und Frieden miteinander verbrachten, konnten sie auch ihre Gotteshäuser nebeneinander errichten. Diese vor Jahrhunderten in Kuzguncuk gelebte Kultur, deren Wurzeln in der Universalität der menschlichen Werte liegen und deren Augen auf die Zukunft gerichtet ist, hat sich bis in die heutige Zeit bewahrt.

Gemeinsame Werte

Dieses in Kuzguncuk zu beobachtende kulturelle Verständnis stellt jedoch keineswegs eine Ausnahme dar, sondern ist nur eines der ausgeprägteren Beispiele der in Anatolien allgemein vorherrschenden Haltung. Die Anatolier haben den Problemen, die aus der Begegnung von verschiedenen Kulturen und Religionen entstehen können, vorgebeugt, indem sie, anstatt auf den Ansichten einer bestimmten Kultur zu bestehen, allen Menschen gemeinsame Werte in den Vordergrund stellten und eine auf diesen Werten aufbauende allgemeine Lebenskultur hervorbrachten. Vor allem haben sie verstanden, dass ihre jeweils eigene Kultur nur in einem Umfeld gedeihen kann, dessen Grundlage das einfache Mensch-Sein bildet.

Durch den Überfluss aus den erstaunlichen Dimensionen des globalen Reichtums, der in dem vor uns liegenden Prozess auch weiterhin rasch zunehmen wird, werden wir eine weltweite durchschnittliche Verbesserung der Lebensumstände erleben. Der technologische Fortschritt zeigt uns nun seine eigene Natur. Faktoren wie die Technologie, die im Produktionsvorgang mehr und mehr den menschlichen Arbeitsanteil ersetzt, der Wohlstand, der sich durch die Nutzung von Rohstoffen in den Bereichen Bergbau und Energie verbreitet, und die Freiheit und Geschwindigkeit, die in der Beschaffung und Verwendung von Informationen erreicht worden sind, verleihen heute und in Zukunft jedem Menschen in unterschiedlichem Maße individuelle Entscheidungsgewalt und persönliche Macht.

Schlussendlich zwingt die rasch fortschreitende Globalisierung unserer Welt auch Kulturen zu einer Öffnung, die hinter durch Kriege gezogene Grenzen abgeschlossen sind und versuchen, in einem privaten Raum für sich zu bleiben. Kulturelle Begegnungen und Migrationsbewegungen werden in diesem Jahrhundert stetig zunehmen. Wenn für die Probleme, die aus dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen in einem zwanzigjährigen Prozess entstanden sind, keine Lösungen gefunden werden, steht der gesamten Menschheit eine wahrhaftige Katastrophe bevor. Was wir vor allem anderen tun müssen, das ist, unsere Probleme – wie alt sie auch sein mögen – auf eine Weise anzugehen, die dem sozialen Gewebe des 21. Jahrhunderts entspricht. Am Beispiel Kuzguncuk zeigt uns die anatolische Kultur den Lösungsweg auf. Die regionalen Kulturen müssen sich in der Universalität der menschlichen Werte treffen und in den globalen Bereich eintreten, und es müssen die nötigen Wege zwischen universalen und kulturellen Werten eingeschlagen werden.
 
*Dieser Text erschien 2008 in der Zeitschrift „Zukunft“.